Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck

„Die alte Zeit ist zu Ende!“

"Wenn Sie mir heute bescheinigten, ich wäre noch derselbe wie vor zehn Jahren, dann empfände ich das als Niederlage." Dieser Satz, den Franz-Josef Overbeck Ende 2019 formuliert hat, bringt zum Ausdruck, was er im Hinblick auf das Bischofsamt als wesentliche Eigenschaften begreift: Die Fähigkeit, Menschen zuzuhören und ihr individuelles Lebenszeugnis zu würdigen sowie den Mut, sich vernunftgeleitet und lernbereit von einem guten Argument überzeugen zu lassen. Bald nachdem der damals 45-Jährige 2009 die Leitung des Ruhrbistums übernahm, begannen sich neue gesellschaftliche und kirchliche Herausforderungen abzuzeichnen. Overbeck ignorierte diese nicht, sondern stellte sich ihnen gemeinsam mit den Menschen im Ruhrgebiet. Dementsprechend führt er das Bistum transparent und dialogorientiert. Overbeck steht für eine kirchliche Kultur der Freiheit, in der Kritik, Zweifel und Infragestellung nicht abgewehrt, sondern nach Möglichkeit wertschätzend aufgenommen, redlich durchdacht und auf ihr positives Veränderungspotential für Kirche und Gesellschaft hin befragt werden.

Der christliche Glaube als „portatives Heimatland“

Als Sohn einer alteingesessenen Landwirtsfamilie aus Marl entschied sich Overbeck im Alter von 17 Jahren dazu, Priester zu werden und nach dem Abitur Theologie zu studieren. Das frühe Interesse an einer vertiefenden Auseinandersetzung mit Fragen rund um Kirche, Kultur und Gesellschaft, die er sich vom Theologiestudium erhoffte, erwuchs und erwächst auch heute aus dem, was Overbeck mit dem Begriff Heimat bezeichnet. Dabei meint er neben seiner familiären und geografischen Herkunft aus dem nördlichen Ruhrgebiet vor allem auch den christlichen Glauben, den er – in Anlehnung an ein Wort von Marcel Reich-Ranicki – als „portatives Heimatland“ bezeichnet: „Wir Christen können von uns sagen: Wir haben im Evangelium, im Glauben und in der Kirche unsere Heimat, die wir überall hin mitnehmen können! Wer pilgernd unterwegs ist, sich als Glied des Volkes Gottes versteht  und gemeinsame Wege geht, der findet diese Heimat stets dort, wo er sich gerade befindet – in sich und in denen, mit denen er unterwegs ist.“ In diesem Sinne heimatverbunden, begleitet er den Wandel des Ruhrgebietes von einer Industrie- hin zu einer Wissens- und Kulturregion und bietet seine theologisch und sozialethisch fundierte Perspektive als gestalterischen Beitrag an, der allen Menschen in der Region zugutekommen soll.

Zukunftsbild: Unter veränderten Bedingungen lebendig Kirche sein

Für Overbeck ist das Bischofsamt, so wie er es definiert und lebt, eine verantwortungsvolle Aufgabe mitten in der Gesellschaft: „Ich tue das gern.“ Ein solcher Dienst am Zeugnis der Christnachfolge ist in seinen Augen stets auf Erkenntnisse aus den Human- und Sozialwissenschaften angewiesen. Denn Overbeck möchte die vielfältigen Lebensherausforderungen der Menschen heute zuerst angemessen verstehen, um in der Kirche dann Angebote und Strukturen entwickeln zu können, die daran glaubhaft Maß nehmen. Im Zukunftsbild des Bistums Essen wird dieses Selbstverständnis konkret. Gemeinsam mit zahlreichen Mitarbeitenden des Bistums und vielen Katholikinnen und Katholiken aus den Pfarreien und Verbänden brachte er 20 zukunftsweisende Projekte für den seelsorglichen Alltag auf den Weg, von denen zehn über den ursprünglich vorgesehenen Zeitrahmen hinaus fortgesetzt werden. Beispiele sind die Segnungsfeiern für Neugeborene, neue Angebote der Seelsorge in den Stadtzentren und in sozialen Brennpunkten, ein neuer Pilgerweg durch die abwechslungsreiche Industrie- und Naturlandschaft des Ruhrbistums, zeitgenössische Popmusik in der Kirche und ein Gründerbüro für unkonventionelle Ideen. Gerade weil sich Overbeck der Tatsache bewusst ist, dass sich in der heutigen Zeit die Bedingungen des Glaubens fundamental gewandelt haben, möchte er alle, insbesondere aber junge Katholikinnen und Katholiken dazu ermutigen und befähigen, frei und selbstbewusst ihre Haltung dazu zu entwickeln, was es für sie bedeutet, heute Christin und Christ zu sein. Das Bistum Essen ist deshalb geprägt von einem Klima der Wertschätzung, in dem gesellschaftliche Veränderungen kritisch daraufhin befragt werden, was sie zu einer lebendigen Kirche beitragen können.

Pfarreientwicklungsprozess: Kirche vor Ort setzt eigene Schwerpunkte

Ergänzt wurde das Zukunftsbild 2015 bis 2017 um einen Pfarreientwicklungsprozess, in dem 42 Großpfarreien, die ab 2005 aus 259 Gemeinden zusammengelegt worden waren, innerhalb eines vorgegebenen Finanzrahmens ihre eigene seelsorgliche und wirtschaftliche Zukunft weitgehend selbstständig planen und verantworten. Damit einher geht auch der Rückbau von Kirchen, denn zu den neuen Herausforderungen gehört ebenso die Tatsache schrumpfender Mitgliederzahlen. Viele Katholikinnen und Katholiken verbinden mit diesen Gotteshäusern und Begegnungsorten einen Teil ihrer sozialen, kulturellen und religiösen Identität. Darum wissend, ist für Overbeck jede Entscheidung für einen Rückbau schwer, aber angesichts perspektivisch sinkender finanzieller Mittel ohne gangbare und tragfähige Alternative.

Gesprächsprozess der Pastoralen Dienste: Anforderungen an die Seelsorge heute

Die veränderten Bedingungen, unter denen Menschen heute ihren Glauben leben, wirken sich auch auf die Anforderungen an und das Selbstverständnis von Seelsorgerinnen und Seelsorger im Bistum Essen aus. Ob Priester, Diakone, Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten, Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten oder Ordensleute: Sie alle sind darauf angewiesen, sich miteinander ihrer Rolle und Berufsidentität laufend und vertiefend neu zu vergewissern. Den Rahmen dafür bietet der gemeinsame Gesprächsprozess aller Pastoralen Dienste. Hier ist im Bistum Essen Platz für den intensiven Austausch über wichtige Fragen, die die Ausbildung und das Miteinander der unterschiedlichen pastoralen Professionen betreffen.

‚Point of no Return‘: Konsequenzen aus der Studie zum sexuellen Missbrauch

Angesichts des Missbrauchsskandals der katholischen Kirche spricht Overbeck von einem ‚Point of no Return‘: „Es gibt Ereignisse, hinter die gibt es kein Zurück mehr. […] Der Missbrauchsskandal in seiner ganzen Weite ist so ein ,Point of no Return‘.“  Als Konsequenz aus der Veröffentlichung der MHG-Studie hat er ein Konzept mit Handlungsoptionen und Maßnahmen auf den Weg gebracht, das alle Möglichkeiten auslotet, die dem Bistum Essen unabhängig von den Entwicklungen in der Weltkirche zur Verfügung stehen, um die wissenschaftlich grundierten Empfehlungen der Studie in strukturelle und inhaltliche Reformen umzusetzen.

 „Es war eine gute Berufsentscheidung“

Auf die Fragen von Schülerinnen und Schüler aus Essen und  Mühlheim, wie er rückblickend zu seinem Wunsch stehe, Priester zu werden, antwortet Overbeck 2018: „Es war eine gute Berufsentscheidung“,  Overbeck ist es wichtig, dass er auch heute all das pflegen und leben kann, was ihm als Jugendlicher am Beruf des Priesters und Seelsorgers attraktiv und herausfordernd zugleich erschien: Beten – allein und in Gemeinschaft –, den Gottesdienst feiern und mit Menschen in guten wie schwierigen Lebenssituationen zusammenzukommen und ihnen eine Hilfe zu sein. Als Bischof weiß Overbeck dabei um die hohe Verantwortung, die er mit seinem Amt – insbesondere auch hinsichtlich des Umgangs mit Macht – trägt.

Der „Synodale Weg“ und gegenwärtige Herausforderungen

Auf dem im Advent 2019 gestarteten „Synodalen Weg“ geht es – ganz zentral – um die Frage nach dem Sinn des Christseins in unserer Zeit und damit um das zukünftige Bild der katholischen Kirche in Deutschland. In Anbetracht ihrer jetzigen Situation spricht Overbeck deshalb von einer „Zeitenwende“, die alle Menschen in der Kirche erleben und die es – verbunden im christlichen Glauben – mutig und dialogisch mitzugestalten gilt. Der „Synodale Weg“ kann für Overbeck nur ein Weg der ganzen Kirche in Deutschland sein, denn eine Perspektivenverschiebung, die eine Beteiligung vieler Menschen ausdrücklich erwünscht, wird nur dann gelingen können, wenn der Prozess eine breite Legitimation und die Bereitschaft zur aktiven Mitgestaltung findet. Overbeck macht deshalb entschieden deutlich: „Ohne verbindliche Entscheidungen gibt es diesen Weg nicht“.

„Die alte Zeit ist zu Ende“, betont er seit 2019 darum immer wieder. Overbeck betont, dass die neue Zeit eine Zeit sein wird, in der die Kirche kleiner und demütiger ihren Weg zu suchen hat: nicht autoritär und exklusiv, sondern angewiesen auf andere – auf ihren guten Rat und bereichernden Widerspruch. So wirbt Overbeck für eine konstruktive Streit- und Konfliktkultur, in der am Ende das bessere Argument und die tiefere Einsicht in den Glauben zählen. Das setzt für ihn eine Haltung voraus, die dem Gesprächspartner in einer inhaltlichen, vernunftgeleiteten Auseinandersetzung zugesteht, womöglich Recht zu haben.

Studium in Rom: Bildung und Vernetzung

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit verschiedenen theologischen Denkrichtungen und kulturellen „Lebenswelten“ in der Kirche stand für Overbeck bereits im Theologie-Studium auf der Tagesordnung. 1984 schickten Bischof und Regens den damaligen Studenten von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, der europaweit größten theologischen Einrichtung an einer staatlichen Hochschule,  nach Rom ins deutschsprachige Priesterseminar Collegium Germanicum und an die Päpstliche Universität Gregoriana mit ihrem lehramtlich orientierten Wissenschaftsbetrieb. Das römische Studium mit Kommilitonen – und einigen wenigen Kommilitoninnen, vor allem in Schwesterntracht – aus über 100 Nationen brachte für Overbeck die Chance einer frühen Vernetzung mit der internationalen katholischen Welt mit sich.

Bischof für Bistum, Militär, Lateinamerika-Hilfe, Europa und Soziales und Kultur

Nach der Priesterweihe 1989 in Rom, einer Kaplanszeit in der westfälischen Heimat in Haltern am See und „Zwischenstationen“ am Bischofssitz in Münster als Domvikar, als Rektor des Deutschen Studentenheims und als Doktorand in Dogmatik übernahm Overbeck im Jahr 2000 mit der Leitung des Instituts für Diakonat und Pastorale Dienste Verantwortung dafür, Diakone und Nicht-Kleriker für die Seelsorge auszubilden. 2007 zum Weihbischof geweiht, erhielt er zwei Jahre später den Ruf auf den Essener Bischofssitz; am 20. Dezember 2009 wurde er hier ins Amt eingeführt. 

Weitere Ämter und Aufgaben kamen hinzu: Katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr, verantwortlicher Bischof für das katholische Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, Vorsitzender der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Vizepräsident der Kommission der Europäischen Bischofskonferenzen COMECE und Mitglied der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika sowie des Päpstlichen Rates für die Kultur.

Sein Arbeitspensum schafft Overbeck mit viel Disziplin. Eine Ausgleich und Bereicherung findet er im frühmorgendlichen Joggen durch die Stadt oder in der Stille der Benediktiner-Abtei Gerleve, vor allem aber im Gebet: „damit ich weiß, warum ich das alles hier tue – weil ich nicht einfach ein Manager bin.“  

Der Bischof ist in der kath. Kirche Vorsteher einer Ortskirche, auch Bistum oder Diözese genannt. Durch die Bischofsweihe steht er unmittelbar in der Nachfolge der Apostel und besitzt damit die oberste Weihe-, Verwaltungs- und Gerichtsgewalt in seinem Bistum. Deshalb wird der Bischof auch als "Oberhirte", der oberste Hirte seines Bistums, bezeichnet.

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