Spirituelle Kraft und Ausstrahlung bestimmen Zukunft der Kirche

Den „Übergang zur Kirche im Volk“ zu bewältigen, darin sieht Dr. Thomas von Mitschke-Collande die große Herausforderung für die Kirche heute. In dem Wunsch vieler Menschen nach geistiger Orientierung und in den Stärken der Kirche sieht er die Chancen für die Kirche, trotz Krisenzeiten.

Dr. Thomas von Mitschke-Collande warb für eine neue „Kultur des Miteinanders“

„Die Katholiken in Deutschland sind in den letzten Jahren durch erhebliche Herausforderungen gegangen“, betonte Dr. Thomas von Mitschke-Collande beim Kreuzganggespräch am Essener Dom. Vor allem habe der Missbrauchsskandal 2010 hohe Wellen geschlagen, und das mit verheerenden Folgen: „Die Kirche verliert an Glaubwürdigkeit, der Zweifel unter den Gläubigen wächst ebenso wie die Verunsicherung unter den Mitarbeitern", sagte der Manager. Bei den Opfern seien „große Verletzungen und Verwüstungen“ entstanden. Sprunghaft sei die Zahl der Austritte angestiegen, habe sich 2010 gegenüber dem langjährigen Durchschnitt verdoppelt. Katholische Seelsorger und Einrichtungen stünden bei vielen inzwischen unter Generalverdacht. „Es droht eine Marginalisierung des gesellschaftlichen Einflusses der Kirche“, warnte von Mitschke-Collande. Eine derartige Krise habe die Katholische Kirche hierzulande noch nicht erlebt. Jetzt stelle sich die Frage nach dem weiteren Weg: „Ist es die Grabesruhe, wird weitergemacht wie bisher oder gibt es einen neuen Aufbruch?“, fragte der Manager.

Seiner Ansicht nach erfasst die Krise der Kirche alle Dimensionen in einer Abwärtsspirale. Das Ende der Volkskirche sei bereits vielfach eingetreten. Die Kirche befinde sich in einer „tiefen Identitätskrise“, die sich in einer Glaubens-, Vertrauens-, Autoritäts-, Führungs- und Vermittlungskrise äußere.  


Eine Krise des Glaubens

Der Papst weise immer wieder auf die Hauptursache hin: „Die eigentliche Krise der Kirche in der westlichen Welt ist eine Krise des Glaubens“, so Benedikt XVI. Die Glaubenskrise habe – so von Mitschke-Collande -  zentrale Inhalte der christlichen Lehre erfasst. Laut einer Allensbach-Umfrage glaubten zwar noch 83 Prozent der Katholiken an Gott. Allerdings glaube nur noch die Hälfte an ein Leben nach dem Tod und nur noch ein Drittel an die Auferstehung Jesu und der Toten. „Wie erfolgreich wäre eine Partei, in der nur ein Drittel elementare Parteiaussagen unterstützt?“, fragte der Unternehmensberater.

Auch das Vertrauen der Menschen in die Kirche habe abgenommen. Laut Umfragen brächten die Deutschen der Katholischen Kirche weniger Vertrauen entgegen als Großbanken, Parteien oder Aufsichtsräten, die ohnehin schon schlecht abschnitten. Zwar hänge die überwiegende Zahl der Katholiken noch an ihrer Kirche. „Diese Erwartungen dürfen nicht enttäuscht werden“, betonte von Mitschke-Collande. 23 Prozent der Katholiken hätten das Vertrauen in die Kirche verloren, 52 Prozent sähen einen „dringenden Verbesserungsbedarf“. Im Gegensatz zur Institution Kirche werde die Arbeit auf der Gemeindeebene deutlich besser beurteilt, genieße eine hohe Wertschätzung. „Das ist ein Pfund, mit dem sich – richtig genutzt – wuchern lässt“, so der Manager.

Die Kirche habe an Autorität verloren und spiele in der Meinungsbildung eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Kirche werde zunehmend auf ihr soziales Engagement reduziert. Glaubensvermittlung als Aufgabe werde kaum wahrgenommen. „Nur noch zwei bis drei Prozent der Gesamtbevölkerung orientiert sich laut Umfrage an der Institution Kirche und ihren Geistlichen“, so von Mitschke-Collande.

Auch macht er eine Führungskrise in der Kirche aus. Mehr als die Hälfte der Katholiken seien der Meinung, dass nicht die richtigen Leute in den Führungspositionen säßen. Außerdem habe sich die Zahl der Priesterkandidaten in den letzten 20 Jahren nahezu halbiert. Das lasse befürchten, dass in gleichem Maße die Zahl derer zurückgehe, die ausreichend Talent, Ausstrahlung und Qualifikation besitzen, um ihrer Berufung gerecht zu werden. Gerade diese würden in der aktuellen Krise benötigt. „Authentisches kirchliches Glaubenszeugnis braucht Menschen, die ihren Glauben mit Leidenschaft leben“, betonte von Mitschke-Collande.

Dass die Botschaft der Kirche immer schwerer ankommt, darin sieht er eine „Vermittlungskrise“. Oft sei der Anschein vermittelt worden, mit mehr Geld ließen sich Probleme schnell beheben. Das sei jedoch falsch. Die Einnahmen aus Kirchensteuern seien heute selbst inflationsbereinigt viermal so hoch wie vor 50 Jahren. „Dennoch ist im selben Zeitraum die Zahl der Gottesdienstbesucher um mehr als das Dreifache gesunken“, so der Referent. Die zunehmende Säkularisierung, gravierende Veränderungen in gesellschaftlichen Werten und Verhalten der letzten 50 Jahre hätten die Einstellung zur traditionellen Form kirchlicher Verkündigung verändert.

Alle diese fünf Dimensionen seinen Ausdruck einer „übergreifenden Identitätskrise der Kirche“, die das Ende der Volkskirche bedeute. Bereits heute gehöre mehr als ein Drittel der Bevölkerung keiner christlichen Konfession an. Von Mitschke-Collande: „Es sterben mehr Leute als getauft werden.“ Volksfrömmigkeit sei kaum noch zu finden.


Wunsch nach geistiger Orientierung ist groß

Die Herausforderung für die Kirche bestehe darin, den „Übergang zur Kirche im Volk“ zu bewältigen. Viele Menschen würden den Wunsch nach geistiger Orientierung verspüren, nach Werten und Gemeinschaft. Doch dieses Bedürfnis nach Glauben und Spiritualität werde häufiger in Alternativen ausgelebt, auf einem „unübersichtlichen Markt religiöser Spiritualität, spiritueller Wellness und Esoterik“, so von Mitschke-Collande. Auf der anderen Seiten stünden die beiden traditionellen, christlichen Kirchen, „beide gefangen in ihrer eigenen Innenorientierung und ihren Identitätskrisen und zu sehr beschäftigt mit finanziellen und personellen Problemen“. Doch in der wachsenden Bedeutung des Glaubens für den einzelnen, der Suche nach Orientierung und spirituellem Halt sowie in den  „großen Stärken von Kirche“ sieht von Mitschke-Collande die Chancen in der Krise.

In fünf Thesen fasste der Unternehmensberater einen möglichen Weg aus der Krise auf: Eine Institution, die den Anspruch zu wachsen aufgebe, habe verloren. Die Kirchen hätten ursächlich kein Austritts-, sondern ein „Auftrittsproblem“. Nicht die Höhe der Austritte, sondern der „Rückgang der Partizipation“ und der „Vertrauens- und Bindungsverlust“ seien das Ärgernis. Nicht der Priestermangel, sondern „unser Unvermögen, den Glauben an die nächste Generation weiterzugeben“, sei die eigentliche Herausforderung. Und letztlich bestimmten spirituelle Kraft und Ausstrahlung die Zukunft der Kirche, „nicht Strukturveränderungen und Abarbeitung der Mängelliste des Glaubens“.


Die Gläubigen neu entdecken

Der Referent warb für eine „Kultur des Miteinanders“ und eine neue Dialogfähigkeit. Das bedeute „Diskussion auf Augenhöhe“ innerhalb der Kirche, mit Laien genauso wie mit der Wissenschaft. „Die Kirche muss eine integrative Gesprächs- und Streitkultur fördern und nicht ausgrenzen“, betonte von Mitschke-Collande. Nach seiner Ansicht sollten Laien stärker in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Innerkirchliche Diskussionen und Auseinandersetzungen dürften nicht als Angriff oder Infragestellen verstanden werden, sondern als das „Wirken des Heiligen Geistes“. Schließlich hätten in der 2000-jährigen Kirchengeschichte Theologen und Laien immer miteinander um die Wahrheit und den richtigen Weg gerungen und sich auseinandergesetzt. „Das hat die Kirche weitergebracht und wird sie auch in Zukunft weiterbringen“, davon ist der Unternehmensberater überzeugt.

Es gelte, die „Gläubigen neu zu entdecken“. Sie dürften nicht als „Kunden“ betrachtet werden. „Durch das Verhalten und das Zeugnis eines Einzelnen, egal ob Laie oder Geistlicher, wird Glaube lebendig und erfahrbar“, betonte von Mitschke-Collande. Das müsse die Kirche anerkennen, einfordern und glaubhaft leben. Der Glaube aus Überzeugung müsse an Stelle des „Gehorsamsglauben“ treten.

Außerdem komme es darauf an, den Menschen uneingeschränkt in den Mittelpunkt zu stellen. „Zur mentalen Erneuerung gehört es, als Kirche missionarisch zu sein, hinaus zu den Menschen zu gehen, sich bewusst der Erfahrung von Fremdheit auszusetzen“, so der Referent. Gefragt sei, Mut zum Aufbruch und selbstbewusst öffentlich Profil zu zeigen, sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu stellen sowie die „Vielfalt in Gottesbeziehung und Glaubensleben" zuzulassen. Bei allem gebe es jedoch ein Tabu: Zentrale Glaubenswahrheiten  dürften nicht angetastet werden.

„Ein Erfolg ist möglich, aber nur, wenn die Herausforderungen ernst und Maßnahmen glaubhaft und unverzüglich in Angriff genommen werden“, betonte der Manager. Der Dialogprozess sei ein „kleiner Schritt in die richtige Richtung“. (do)

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