von Maria Kindler

In Zukunft Minderheit: Wie Kirche sich trotz beschleunigender Umbrüche zukunftssicher aufstellen kann

Unter dem Titel „Was tun? Was lassen?“ diskutierten in der Wolfsburg rund 50 Teilnehmende über die zentralen Ergebnisse der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Sie tauschten sich darüber aus, welche Schlüsse aus der repräsentativen Studie für die pastorale und kulturelle Arbeit im Bistum Essen zu ziehen sind und welche konkreten Handlungsansätze es gibt.

Mitgliederrückgang fordert Kirche: Mehr als Hälfte in Deutschland konfessionslos.

Kirchen wertgeschätzt für soziales Engagement und Lebensübergangsunterstützung.

Fachtagung fordert Aufbruch: Mut zu Neuem, auch bei schwindenden Ressourcen.

Kirchenbindung und Religiosität gehen in Deutschland noch stärker zurück als bisher angenommen. 2022 gehörte weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland den beiden christlichen Kirchen an, 25 Prozent waren katholisch und 23 Prozent evangelisch. Konfessionslos waren 43 Prozent. Dieser Trend wird sich ziemlich sicher noch verstärken. Dabei gleichen sich Katholiken und Protestanten in ihren Profilen und Erwartungen immer mehr an. Aber: Kirche wird auch für ihr Engagement für die Armen und Schwachen in der Gesellschaft geschätzt und ist in Übergangsphasen des Lebens für die Menschen von Bedeutung.

Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung
Die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft war im vergangenen November auf der EKD-Synodentagung in Ulm vorgestellt worden. Für die repräsentative Studie mit dem Titel Wie hältst du’s mit der Kirche? waren mehr als 5000 Menschen in Deutschland zwischen Oktober und Dezember 2022 befragt worden. Ein Novum der jüngsten Untersuchung: Erstmals wurden nicht nur evangelische Kirchenmitglieder und Konfessionslose, sondern auch katholische Christinnen und Christen und Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften befragt.

Das Kirchenamt der EKD hatte die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung koordiniert. Erstmals hatte die DBK die Erhebung durch fachliche Expertise und finanzielle Mittel unterstützt. Daten rund um das Thema Kirchenmitgliedschaft werden schon seit 1972 erhoben. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gilt als eine der weltweit umfassendsten religionssoziologischen Studien, die Vergleichswerte über lange Zeiträume anbietet. Zu den Ergebnissen: kmu.ekd.de

Das sind zentrale Ergebnisse der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, für die erstmals auch katholische Christinnen und Christen befragt worden waren. Sie waren die Basis für die Fachtagung "Was tun? Was lassen?" am Montag (4. März) in der Bistumsakademie "Die Wolfsburg" in Mülheim. Die Veranstaltung, die in Kooperation mit den Ressorts Kirchen- und Kulturentwicklung im Bistum Essen stattfand, richtete sich an hauptamtliche Mitarbeitende im pastoralen und nicht pastoralen Dienst im Bistum Essen sowie an alle Interessierte.

Zum Auftakt der Fachtagung präsentierte der Theologe Dr. Tobias Kläden vom Referat Evangelisierung und Gesellschaft bei der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) in Erfurt zentrale Ergebnisse der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Sein Fazit:

  • "Nicht nur Kirchlichkeit, auch Religiosität geht insgesamt zurück. Wir befinden uns inzwischen in einer säkularen Mehrheitsgesellschaft.“
  • "Die Kirchen sehen sich multiplen Krisen und hohen Reformerwartungen ausgesetzt. Konfessionelle Profile verlieren für Außenstehende ihre Bedeutung, wir befinden uns in einer postkonfessionellen Situation."
  • "Nach wie vor werden hohe Erwartungen an die Kirchen gestellt. Sie haben weiterhin eine hohe soziale (im Gegensatz zur religiösen) Reichweite in die Gesellschaft und stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt, besonders über ehrenamtliches Engagement."

Studie zeichnet ambivalentes Bild aus Ernüchterung und Ermutigung

Die Untersuchung zeichne ein ambivalentes Bild zur Bedeutung der Kirchen in der Gesellschaft, resümierte Kläden. Einerseits gebe es eine deutliche Entkirchlichung, aber auch Vergleichgültigung von Religion allgemein, andererseits würde von der Kirche gesellschaftlich immer noch viel erwartet. Die Kirchen spielten eine wichtige zivilgesellschaftliche Rolle und stärkten den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und ihnen würde attestiert, vor Ort eine gute Arbeit zu leisten – wenn auch für einen immer kleiner werdenden Teil der Gesellschaft.

„Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt ein Dilemma aus Ernüchterung und gleichzeitig Ermutigung“, sagte Kläden. „Aus meiner Sicht wäre die fundamentalste Aufgabe, die sich aus den Ergebnissen ergibt, die Vergleichgültigung von Religion und die zukünftige Minderheitenposition des Christentums ehrlich anzuerkennen und zu fragen, welche Art von Minderheit wir sein wollen.“

„Säkularisation ist ein Megatrend, aber kein Universaltrend.“

Anschließend setzte Prof. Dr. Jan Loffeld. Leiter des Department of Practical Theology and Religious Studies an der Tilburg University School of Catholic Theology in Utrecht in den Niederlanden, unter der Leitfrage "Wie lange funktioniert das Evangelium ohne Gott?" die Studienergebnisse in einen pastoraltheologischen Kontext. „Säkularisation ist ein Megatrend, aber kein Universaltrend, also keine Einbahnstraße, sondern eine Hauptstraße.“ Der Theologe stellte diese Thesen auf:

  • „Vereinigung der ganzen Menschheit“ ja bitte – allerdings „innigste Vereinigung mit Gott“ braucht es nicht zwingend. Es muss daher neu über den ‚Mehrwert‘ nachgedacht werden, den das Evangelium gerade auch in seiner transzendenten Verwurzelung für unsere Gesellschaft bedeuten könnte.
  • Die Annahme einer allgemeinen religiösen Suche, Sehnsucht, Frage oder Grunddisposition muss mit deutlichen Fragezeichen versehen werden. Gleiches gilt für komplementäre Tankerbegriffe wie Spiritualität, Trost, Sinn.
  • Solange der Mensch als natürlich religiös gedacht wurde, ist eine Optimierung beziehungsweise Veränderung der Kirchengestalt das Mittel der Wahl. Angesichts der empirischen Befunde sind optimierende Initiativen zwar weiterhin notwendig, aber für die Relevanz des Evangeliums auf Individualebene nicht hinreichend.
  • Das Christentum ist auf dem Weg in eine Minderheitensituation, den man vielleicht noch ein wenig herauszögern, aber nicht abbremsen kann. Daher die Frage: "Welche Art von Diaspora möchten wir werden?" Vorschlag: schöpferisch, konstruktiv und inklusiv, um einerseits sektiererischen Versuchungen zu widerstehen und zugleich dem ‚Weltauftrag‘ des II. Vatikanums inmitten veränderter Kontexte verpflichtet zu bleiben.

Austausch und Reflexion in Workshops

Nach den Impulsen durch die Vorträge der beiden Theologen diskutierten die Teilnehmenden bei Workshops in zwei Gruppen darüber, welche Bedeutung die Studienergebnisse für die pastorale und kulturelle Arbeit im Bistum Essen haben.

Im Workshop zur kulturellen Arbeit tauschten sich die Teilnehmenden darüber aus, dass – ausgehend von einem Verständnis von Kultur als Prozess, der sich als Austausch, Verknüpfung, Aushandlung und Hervorbringung von Werten und Deutungen zwischen Menschen vollzieht – Kulturentwicklung als die strategische Aufgabe gesehen werden muss, Orte und Räume zu fördern und zu schaffen, an denen sich Kultur unter den Voraussetzungen von Diversität, Multiperspektivität, Gerechtigkeit und Teilhabe entfalten kann. Gerade im Kulturbereich sei es Kirche zukünftig möglich, die eigene kirchliche Blase zu verlassen und auch für die immer größer werdende Zahl von kirchenfernen Menschen Angebote mit einem individuellen Mehrwert zu schaffen.

Im Workshop zur pastoralen Arbeit diskutierten die Teilnehmenden etwa über Thesen wie „Unter einem gemeinsamen Dach als Stadtkirche sind wir für die Menschen in der Stadt bei vielen Anliegen erreichbarer und ansprechbarer.“ oder „Viele – nicht alle – Ehren- und Hauptamtliche hängen an volkskirchlichen Formaten, wohlwissend, dass es Entwicklung braucht.“

Traditionelle Muster brechen, um Positivwirkung der Kirchen zu stärken

Studie des Bistums Essen: Kirchenaustritt – oder nicht?

Das Bistum Essen hat 2018 eine Studie mit dem Titel Kirchenaustritt – oder nicht? veröffentlicht, die zwei zentralen Fragen nachgegangen ist: Warum treten Menschen aus der Kirche aus? Und: Wie können diese Menschen vielleicht doch noch gehalten werden? „Entfremdung“ und „fehlende Bindung“ wurden in der Studie als die wichtigsten Gründe für Kirchenaustritte ausgemacht.

Auch fast sechs Jahre nach der Veröffentlichung der Bistumsstudie bleiben sie, wie nun auch die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gezeigt hat, die stärksten und überzeugendsten Erklärungsmuster für Kirchenaustritte – und damit Ansatzpunkte, um möglicherweise etwas daran zu ändern.

Die Fachtagung endete mit einer Abschlussdiskussion, die einen Ausblick auf Handlungsansätze im Bistum Essen warf, um die positive Wirkung der Kirchen zu stärken und ihre Rolle in einer sich wandelnden Gesellschaft weiterhin zu festigen.

Die Diskussion zeigte: Es gibt weder einfache Antworten noch ein Allheilmittel gegen den Mitglieder- und Relevanzverlust der Kirchen und zudem immer knapper werdende Ressourcen. „Es braucht weitere Konzentration, es braucht den Mut, aus traditionellen Mustern auszubrechen, um eine Profilierung zu erreichen, um interessant und attraktiv zu werden. Wir müssen uns wirklich entscheiden“, sagte der Leiter des Ressorts Kirchenentwicklung im Bistum Essen, Markus Potthoff. Die Leiterin des Ressorts Kulturentwicklung im Bistum Essen, Dr. Judith Wolf, betonte: „Leitungen können Rückendeckung geben, den nötigen Mut aufzubringen, und dazu ermutigen, auch Gegenwind auszuhalten, aber die Pfarreien müssen sich auch selbst auf den Weg machen – und zwar ohne Denkverbote.“ Deutlich wurde in der Debatte auch, dass es angesichts knapper werdender Ressourcen notwendig ist, die ökumenische Zusammenarbeit in den Kommunen und Landkreisen zu verstärken.

Wolf und Potthoff nannten den Prozess „Christlich leben. Mittendrin.“, der Ende Februar in Oberhausen gestartet wurde und der bis Ende 2025 die derzeit vier Pfarreien zur stadtweiten Katholischen Kirche Oberhausen zusammenführen und zu einem Netzwerk mit weiteren katholischen Organisationen, Einrichtungen und Verbände verbinden soll. Nach und nach sollen im gesamten Bistum die katholischen Partnerinnen und Partner auf Ebene der Städte und Kreise stärker miteinander vernetzt werden.

Versuchen wollen die Teilnehmenden der Fachtagung es in ihren eigenen Gemeinden, Pfarreien und Bistümern, indem sie den Mut aufbringen – auch gegen Widerstände – Vieles zu tun, aber auch Manches zu lassen, sich Neuem zu öffnen und sich von einigen überkommenen und starren Konzepten zu verabschieden. „Vor dem Hintergrund schrumpfender Ressourcen fühle ich mich bestärkt, bei so Vielem, was getan wird, ohne Angst vor Widerständen auch Dinge zu lassen“, sagte eine Teilnehmerin.

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