von Jürgen Flatken

Von der Macht des Erzählens: Frauen berichten von ihrem Missbrauch in der katholischen Kirche

Sie erlebten Übergriffe sexueller und spiritueller Art: erwachsene Frauen in der katholischen Kirche. 23 von ihnen wollten nicht länger schweigen und haben in dem Buch „Erzählen als Widerstand“ in Worte gefasst, über das sie lange geschwiegen haben: dass sie Opfer von Männern geworden sind, von Männern, die als Priester eigentlich für sie als Menschen da sein wollten. Angeregt wurde die Sammlung von Lebensberichten vom Katholischen Deutschen Frauenbund und vom Forum katholischer Theologinnen.

Eine der Herausgeberinnen ist Ute Leimgruber. Sie ist Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg und hat zum „Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ (25.11.), dem sogenannten „Orange Day“, mit dem Bistum Essen gesprochen.

Bistum Essen: Frau Leimgruber, Der US-amerikanische Pastoralpsychologe Richard Snipe schätzt die Zahl der sexuellen Übergriffe von Priestern auf Frauen vier Mal höher ein als die auf Kinder. Wie kann es sein, dass darüber bisher kaum etwas an die Öffentlichkeit gelangt ist?

Ute Leimgruber: Grundsätzlich belegen Untersuchungen, dass circa 30 Prozent der Frauen weltweit sexuelle Übergriffe erfahren haben. Schon 1998 haben US-amerikanische Psychiaterinnen und Psychiater in Frauenklöstern nachgeforscht und kamen zu dem Ergebnis, dass 40 Prozent aller Ordensfrauen sexuelle Gewalterfahrungen gemacht haben, 30 Prozent davon direkt in den Klöstern selbst. Wer wollte, hätte es also wahrnehmen können.

Bistum Essen: Dann ist ja fast jede dritte Ordensfrau betroffen...

Ute Leimgruber: Dass der Fokus vor allem auf dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gerichtet ist, liegt darin begründet, dass Konsens darüber besteht, dass Sex mit einem Kind niemals ok ist. Gleichzeitig ist das Phänomen aber eben auch nur ein Teil des Gesamtproblems sexuellen und spirituellen Missbrauchs in der Kirche. Der Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ist seit Jahrzehnten als Straftatbestand relativ klar. Wohingegen der Missbrauch an Erwachsenen rechtlich oft ungenügend erfasst und häufig auch nicht gemeldet worden ist. Also viele Frauen, die sexuellen und spirituellen Missbrauch erfahren, melden das gar nicht, und dann ist es nirgendwo offiziell verzeichnet und kann nur schwer nachgewiesen werden. Das heißt, es gibt unterschiedliche Gründe, warum der Missbrauch nicht in kirchlichen Personal- oder Strafakten auftaucht. Aber, nur weil etwas nicht in irgendwelchen Akten steht, heißt das ja nicht, dass es das nicht gibt.

Bistum Essen: Wie erklären Sie sich, dass die betroffenen Frauen keine Anzeige erstattet haben?

Ute Leimgruber: Der Missbrauch an erwachsenen Personen kommt oft sehr gewaltlos und manipulativ daher. Unter dem Deckmantel der Fürsorge versteckt sich eine Anbahnungsstrategie: aus einer anfangs durchaus als liebevoll und guttuend erfahrenen Beziehung zwischen einem Priestertäter und einer erwachsenen Person wird schleichend ein Abhängigkeits- und Unterwerfungsverhältnis, in dem die Betroffene irgendwann selber nicht mehr weiß, was richtig und was falsch ist. In dem Buch berichten Betroffene, dass, wenn sie „Hör auf“ gesagt hätten, oder „Ich will das nicht“, der Priester erwidert habe „Was? Ich dachte, das ist Teil des Vorspiels“. Das „nein“ wurde also nicht als nein wahrgenommen. Und viele geben sich auch selber eine Mitschuld. Gerade in einer so emotionalen Abhängigkeit vom Täter ist es unglaublich schwer, an die Öffentlichkeit zu gehen oder das irgendwie zu melden. Zumal da die Tat oft auch mit Schweigegeboten belegt ist: das ist unser Geheimnis, unser „Schatz“. Dadurch wird die Tat positiv bemäntelt. Das heißt, dass viele Frauen das, was sie erlebt haben, niemanden sagen können und, aus Scham, auch nicht wollen.

Bistum Essen: Sie spielen auf das Machtgefälle zwischen Priester und Ordensfrau an?

Ute Leimgruber: Also, jeglicher Missbrauch ist immer auch ein Macht-Missbrauch. Und die meisten der Missbrauchsbeziehungen oder Missbrauchstaten in unserem Buch sind im Umfeld von seelsorglichen Settings passiert, wie zum Beispiel geistliche Begleitung, Beichte oder Exerzitien. Innerhalb dieses Rahmens kann es niemals zu einer Beziehung auf Augenhöhe kommen. Solche Beziehungen sind per se immer asymmetrisch angelegt. Und dann ist der Mann auch noch als Priester der Frau gegenüber in einer Autoritätsposition. Da tut man sich nochmal schwerer zu sagen, dass man das nicht wolle und sich dagegen zu wehren. Dazu kommen weitere Abhängigkeiten, beispielsweise Abhängigkeiten zwischen Sekretärin und Vorgesetztem, der Pastoralreferentin vor Ort und dem Ausbildungspfarrer. Hinzu kommen unterschiedliche psychologische Hemmnisse wie zum Beispiel Dissoziation, weshalb die Frauen nicht nein sagen können.

Bistum Essen: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das System Kirche? Die Hierarchie

Ute Leimgruber: Es gibt in der Kirche bestimmte systemische Faktoren, die Missbrauch begünstigen. Was aber noch nicht bedeutet, dass dies direkte Ursachen für Missbrauch sind.

Bistum Essen: Zum Beispiel?

Ute Leimgruber: Klerikalismus. Klerikalismus beschreibt eine bestimmte Haltung von Priestern, die sich aufgrund ihres Amtes berechtigt und in der Lage sehen, andere zu dominieren. Sie nutzen es quasi aus, dass sie Priester sind. In dem Buch berichten einige Betroffene davon, dass sie mit dem Verständnis aufgewachsen sind: „Das ist ein Priester, der macht doch nichts verkehrt“ oder „Er verfügt über eine bestimmte Autorität, die man nicht in Frage stellt“.

Bistum Essen: Der Mann Gottes.

Ute Leimgruber: Genau. Und das wird dann natürlich potenziert durch eine theologische Begründung, dass ein Priester „in persona Christi“ handelt. In persona Christi handelt der Priester vor allem bei der Feier der Sakramente. Aber es besteht die Gefahr, dass eben diese sakramentale theologische „in persona Christi-Handlung“ klerikalistisch aufs Gesamte ausgeweitet wird. Dann sagt der Täter zum Beispiel bei einer sexuellen Handlung, „das, was ich tue, tut eigentlich Christus an dir“. Eine solche Ämtertheologie und das dazugehörige Amtsverständnis, würde ich sagen, sind systemisch begünstigende Faktoren, die wir immer wieder beobachten.

Bistum Essen: Welchen Arten von Missbrauch sind die Frauen ausgesetzt?

Ute Leimgruber: Sexueller Missbrauch in der Kirche geht oft mit spirituellem Missbrauch einher. Menschen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, haben vorher immer spirituellen Missbrauch erlebt. Dagegen gibt es viele Fälle von spirituellem Missbrauch, in denen es nicht zu sexuellen Handlungen gekommen ist.

Bistum Essen: Unter sexuellem Missbrauch kann ich mir etwas vorstellen, aber wie geschieht spiritueller?

Organe your City
Im Rahmen des sogenannten „Orange Day - dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen“ fand unter anderem auf Initiative der Katholischen Erwachsenen- und Familienbildung (KEFB), der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) und der Prävention im Bistum Essen am 22. November eine digitale Lesung mit den Herausgeberinnen des Buches „Erzählen als Widerstand“ Frau Professorin Ute Leimgruber und Frau Dr. Barbara Haslbeck statt.

Ute Leimgruber: Auf den Punkt gebracht kann man drei Anzeichen für spirituellen Missbrauch nennen: Handeln gegen die spirituelle Selbstbestimmung, Druck bzw. Zwang und die Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses. Wenn die Stimme Gottes ins Feld geführt wird, um jemanden zu manipulieren, wenn die Absolution verweigert oder mit der Hölle gedroht wird, dann ist das spiritueller Missbrauch. Der Täter oder die Täterin nutzen ihre Position als Oberin, als Beichtvater oder geistliche*r Begleiter*in aus, um das Gegenüber gefügig zu machen. Und das kann dann soweit gehen, dass solche spirituellen Beziehungen zu einer emotionalen Abhängigkeit führen können. Bis hin zu Beziehungen, von denen die Frau lange geglaubt hat, dass der Täter es gut mit ihr meint und erst im Nachhinein gemerkt hat, dass dem nicht so war. Im Gegenteil, dass es nur zu seinem Lustgewinn war. Und die Bandbreite kann bis zu harter sexualisierter Gewalt führen, zum Beispiel wenn ein Priester, der im Rahmen von Exerzitien eine Frau, als Exorzismus getarnt, ganz brutal vergewaltigt.

Bistum Essen: Welche Geschichte hat Sie besonders berührt?

Ute Leimgruber: Die letzte Geschichte unseres Buches hat mich sehr berührt und gleichzeitig wütend gemacht. Es geht um eine erzwungene Abtreibung und zwei Priester, die dabei skrupellos zusammengearbeitet haben: Die Frau wurde von einem der Täter schwanger, und er wollte sie zur Abreibung bewegen. Sie aber war sich unsicher, ob sie diese vornehmen lassen solle. Daraufhin ging sie zu einem mit ihm befreundeten Priester, bei dem sie beichten solle. Eigentlich suchte sie in der Beichte Rat und Hilfe. Aber auch Beicht-Priester hat ihr zum Abbruch geraten. Es waren also zwei Priester, die sie bedrängt haben. Letztendlich hat sie die Abtreibung vornehmen lassen und ist bis heute geschädigt. Das hat mich berührt und auch wütend gemacht: wie gewissenlos da manche Täter mit dem ihnen entgegen gebrachten Vertrauen umgegangen sind.

Bistum Essen: Was würden Sie sagen, gibt es einen bestimmten Opfer-Typ?

Ute Leimgruber: Ich glaube, dass es keine Opfer-Schubladen gibt. Es kann tatsächlich jede Frau treffen. Natürlich ist es so, dass Frauen, die vortraumatisiert sind, zum Beispiel wenn sie in ihrer Kindheit schon Missbrauch erfahren haben, eine erhöhte Vulnerabilität aufweisen, die sie dann auch mitbringen, wenn sie eventuell als Erwachsene in eine Ordensgemeinschaft eintreten. Aber die konventionellen Opferklischees stimmen einfach nicht: Die Autorinnen sind Frauen, die mitten im Leben stehen. Etliche haben Erfolg im Beruf, sie haben eine Familie, Kinder und stemmen ihren Alltag. Sie sind eben nicht als „Opfer“ erkennbar. 

Bistum Essen: Ihr Buch ist heute vor einem Jahr am „Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ herausgekommen. Was hat sich seitdem getan?

Ute Leimgruber: Es hat sich tatsächlich eine ganze Menge getan. Wir sind ja mit dem Ziel angetreten, Öffentlichkeit herzustellen. Und ich glaube, die Öffentlichkeit haben wir – zu einem Teil zumindest – erreicht. Auch haben sich viele weitere betroffene Frauen bei uns gemeldet, die plötzlich erkannt haben: „Mensch, bei mir war es ja ähnlich. Ich hatte immer ein komisches Gefühl und nicht gewusst warum. Jetzt kann ich es einordnen.“ Und die Deutsche Bischofskonferenz hat eine Anlaufstelle geschaffen, an die sich Betroffene wenden können Also, es hat sich schon etwas getan.

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