von Thomas Rünker

Vom Bergmann zum Pfarrer: Heinrich Beckmann ist der älteste Priester des Bistums Essen

Am Altar der Gelsenkirchener Thomas-Morus-Kirche steht der 93-jährige Heinrich Beckmann seit gut einem Jahr nicht mehr. Aber das Geschehen in Kirche und Welt verfolgt der langjährige Schulpfarrer weiterhin mit wachem Interesse. Und dass er nicht mehr gut lesen kann, schadet seiner Beziehung zum lieben Gott keineswegs: „Glaube kommt vom Hören“, habe schließlich schon der Apostel Paulus gesagt.

Heinrich Beckmann wurde 1930 als eines von fünf Kindern einer Bergarbeiterfamilie im heutigen Essen-Burgaltendorf geboren

Sein Elternhaus sei „gut katholisch, aber nicht übertrieben“ gewesen.

Auch als 93-Jähriger hat Pfarrer Beckmann durchaus moderne Ansichten.

Die Kirche müsse sich hinsichtlich der Sexualmoral und der Stellung der Frauen erneuern – und hätte das besser schon nach 1968 getan, so Beckmann.

Heinrich Beckmann war einer der Ersten. Als der junge Bergmann und Theologe aus dem heutigen Essen-Burgaltendorf im Dezember 1958 in Lüdenscheid zum Priester geweiht wurde, bestand das Bistum, das diese beiden Städte verbindet, noch keine zwölf Monate. Heute ist Beckmann der älteste Priester des Ruhrbistums, lebt seit 1966 im Pfarrhaus der damals neu errichteten Gemeinde St. Thomas Morus in Gelsenkirchen-Ückendorf und ist mit 93 Jahren einer der letzten Zeitzeugen, die die Geschichte des Bistums Essen komplett miterlebt und mitgestaltet haben. Kurz vor Weihnachten hat der langjährige Schulseelsorger sein eindrucksvolles 65-jähriges Priesterjubiläum gefeiert.

Geboren und aufgewachsen ist Beckmann südlich der Ruhr im damals noch selbstständigen „Altendorf, Amt Hattingen“, wie Beckmann betont. Sein Vater war Bergmann und sein Elternhaus „gut katholisch, aber nicht übertrieben“, erzählt der 1930 geborene Beckmann. Dafür aber offenbar sehr bildungsaffin, wie man heute sagt: Nicht nur Heinrich ging in der Nachkriegszeit zur Universität, um Theologie zu studieren. Während die einzige Schwester schon im Kindesalter verstarb, ergriffen auch zwei seiner Brüder akademische Berufe und wurden Jurist bzw. Zahnarzt. Und auch der vierte Sohn der Familie – ein Metzger – hätte „das Zeug für die Uni“ gehabt, sich aber aus freien Stücken fürs Handwerk entschieden. Mit dem Zug seien sie damals von (Burg-)altendorf nach Steele gefahren, um aufs Carl-Humann-Gymnasium zu gehen. Die Schule gibt es bis heute, während die Bahnstrecke Platz für einen beliebten Fahrradweg gemacht hat.

„Da oben ist unser Kreuz, wir brauchen kein Hitler-Kreuz“

Die Nazis hatten in seinem Elternhaus wenig zu sagen, erinnert sich Beckmann. Als Leute von der NSDAP seiner Mutter das Mutterkreuz nach Hause brachten, weil die zur öffentlichen Ehrung nicht erschienen war, hätte die Frau auf ein Kruzifix gezeigt und den Partei-Vertretern gesagt: „Da oben ist unser Kreuz, wir brauchen kein Hitler-Kreuz“, sagt Beckmann – und weiß heute: „Das hätte auch böse Folgen haben können.“ Einen Hügel weiter in Hattingen-Niederwenigern lebte damals zeitgleich eine andere katholische Familie, der Vater ebenfalls Bergmann mit sieben statt fünf Kindern wie bei Beckmanns: Nikolaus Groß, der seinen aktiven Widerstand gegen die Nationalsozialisten mit seinem Leben bezahlte und heute als Seliger des Ruhrbistums verehrt wird.

Beckmann hat Glück gehabt, entging den heftigsten Bombenangriffen, die der Zweite Weltkrieg über den Großraum Essen brachte, in der Kinderlandverschickung in Ischgl in Tirol. Die österreichischen Alpen haben ihn seitdem nicht mehr losgelassen: Jeden Urlaub hat er in den Bergen verbracht, ging Wandern und Bergsteigen und hat jeweils im Sommer und im Winter als Aushilfspfarrer im Pitztal Gottesdienste gefeiert. 1982 stiftete er zusammen mit seinen Brüdern ein Gipfelkreuz für den bis dahin noch unbekreuzten Parstleskogel in 2741 Metern Höhe. „Jedes Jahr haben wir dann einmal dort oben Messe gefeiert“, erinnert er sich und zeigt ein großes gerahmtes Foto in seiner Wohnung, das ihn in alpiner Umgebung zusammen mit einer kleinen Gemeinde zeigt. „Einmal waren 60 Leute dabei – obwohl man 1150 Höhenmeter aufsteigen muss, bis man am Gipfel ist.“ Bis 2007, da war der Pfarrer schon 77, gab’s diese Tradition. Das Kreuz steht heute noch dort oben.

Job als Bergmann finanzierte Heinrich Beckmann das Theologie-Studium

Nach dem Abitur 1950 entschied sich Beckmann für das Theologie-Studium. Warum genau, kann er heute gar nicht mehr sagen. Immerhin gab es einen Onkel, der in den 1930er Jahren als Priester und Ordensmann in die Mission in Paraguay gegangen sei. Anfangs sei ihm auch noch nicht klar gewesen, ob er nicht doch vielleicht eine Karriere als Religionslehrer dem Priesterleben vorzieht – als Schulpfarrer hat er schließlich beides miteinander verbunden. Während des Studiums hat indes sein Nebenjob für einiges Erstaunen – und manche Spöttelei – bei seinen Kommilitonen gesorgt: „BAföG oder so etwas gab es ja noch nicht. Da hab‘ ich in den Semesterferien als Bergmann gearbeitet.“ Auf Zeche Theodor in Altendorf, wie sein Vater. Die schwere Grubenlampe und der alte Helm zieren heute noch Beckmanns Wohnung. Und die Witze der Mit-Studenten hätten aufgehört, nachdem er sie einmal zu einer Grubenfahrt mitgenommen hat.

Nach 1968 wurden die Schulgottesdienste seltener

Nach der Priesterweihe in Lüdenscheid – im jungen Ruhrbistum gab es noch nicht die feste Tradition, alle Priester im Essener Dom zu weihen – ging’s für Beckmann nach Gelsenkirchen: In St. Georg am Nordrand der Innenstadt wurde er Vikar, also Priester in Ausbildung. Nach sechs Jahren in der Gemeinde wird er 1964 als Schulpfarrer an die Gertrud-Bäumer-Realschule im Stadtteil Ückendorf geschickt. „Dem Bischof war damals wichtig, dass an jeder größeren Schule ein Priester war, der den Religionsunterricht und die Schulgottesdienste koordinierte“, erläutert Beckmann. Anfangs habe es auch an der staatlichen Realschule wöchentliche Schulgottesdienste gegeben. „Nach der 68’er Zeit gab es dann nur noch zu Beginn und zum Ende des Schuljahres Gottesdienste.“

„Die Kirche hat zu lange an Dingen festgehalten, die nicht mehr zeitgemäß waren.“

Überhaupt, die ‘68er: Beckmann beschreibt sie im Gespräch mehrfach als deutliche Einschnitte mit langfristig spürbaren Veränderungen – zum Beispiel in der Bildungslandschaft. In den 1980er Jahren wechselte Beckmann an die damals neue Gesamtschule Ückendorf, wo er bis zu seiner Pensionierung 1994 im Einsatz war. Im Vergleich zur Realschule sei das Schulleben dort „mit Blick auf Disziplin, Ordnung und Sauberkeit ein himmelweiter Unterschied“ gewesen. Aber auch für die Kirche sei die Protestbewegung der ‘68er ein Thema gewesen, erinnert Beckmann und sagt: „Die Kirche hat in der 1968er-Bewegung nur das Negative gesehen.“ Aus seiner Sicht habe die Kirche „den Fehler gemacht, zu lange an Dingen festzuhalten, die nicht mehr zeitgemäß waren“. Heute ist für Beckmann klar: „Die Kirche kann sich nur erneuern, wenn sich einiges tut in Sachen Sexualmoral und hinsichtlich der Stellung der Frauen in der Kirche.“ Heute versuche man in der Kirche – zum Beispiel bei den Diskussionen im Synodalen Weg – Dinge zu korrigieren, die man auch im Nachgang der 1968er schon hätte verändern können.

Das Sehen hat bei Pfarrer Beckmann im vergangenen Jahr so stark nachgelassen, dass er mit Anfang 90 nicht mehr am Altar stehen mag. Und auch das Sprechen ist vielleicht ein wenig langsamer geworden als früher – aber sein Denken ist noch messerscharf und topaktuell. So lebt er augenscheinlich sehr zufrieden in seiner Wohnung in dem 1966 vom legendären Kirchbaumeister Gottfried Böhm als geschlossenes Pfarrzentrum errichteten Gemeindeheim St. Thomas Morus. Sonntags um 10 und mittwochs um 8.15 Uhr kommt ein Priester der Pfarrei St. Augustinus vorbei und feiert in St. Thomas Morus die Messe. Oft ist dann auch Beckmann im Gottesdienst, „aber als ganz normaler Christ in der Kirchbank“, wie er sagt. Ein deutlicher Perspektivwechsel nach fast 65 Jahren am Altar – aber einer, der Heinrich Beckmann durchaus zusagt. Dass er die Messbücher nun nicht mehr lesen könne, sei nicht so schlimm, sagt er. „Der Glaube kommt von Hören“, zitiert er den Apostel Paulus.

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