von Maria Kindler

Pluralisierung religiöser Landschaft erhöht politischen Handlungsdruck

Nathanael Liminski, Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei und bekennender Katholik, hält angesichts der weltanschaulichen Pluralisierung der Gesellschaft eine aktive und moderne Religionspolitik „als staatliches Handeln und politische Haltung“ für unverzichtbar. Politik stehe in der Verantwortung, die gesellschaftlichen Veränderungen aktiv zu begleiten und Strukturen und Rahmenbedingungen für die freie Entfaltung der Religionen zu schaffen, sagte Liminski bei den „Essener Gesprächen zum Thema Staat und Kirche“ in der Bistumsakademie „Die Wolfsburg“.

In einer zunehmend säkularisierten Welt und pluralen Gesellschaft ist nach Ansicht des Chefs der nordrhein-westfälischen StaatskanzleiNathanael Liminski eine gelingende Religionspolitik „als staatliches Handeln und politische Haltung“ unverzichtbar. „Nur dann können wir Orientierung bieten und einen Rahmen schaffen, in dem die großen Chancen und Möglichkeiten, die in dieser Vielfalt liegen, auch von allen frei und gleichberechtigt genutzt werden können“, sagte Liminski am Montagabend, 13. März, bei den „Essener Gesprächen zum Thema Staat und Kirche“ in der Akademie des Bistums Essen, „Die Wolfsburg“, in Mülheim.

Der NRW-Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien hielt den Keynote-Vortrag bei der renommierten Fachtagung, zu der der Bischof von Essen immer im Frühjahr einlädt. Rund 120 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik, Kirche und Verwaltung diskutierten zwei Tage lang unter dem Titel „Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Religionspolitik“. Geleitet wird der von der „Wolfsburg“ veranstaltete Fachkongress seit 2018 vom Leipziger Staats- und Verfassungsrechts-Professor Arnd Uhle, der in diesem Jahr allerdings krankheitsbedingt fehlte. Die Tagungsleitung übernahmen Akademiedirektorin Judith Wolf und der Rechtswissenschaftler Heinrich de Wall von der Universität Erlangen-Nürnberg.

Religionspolitik spiegelt Integrations- und Innovationsfähigkeit von Demokratien

Liminski führte aus, dass mit der Vielfalt der Religionen auch die Diversität der Strukturen religiöser Akteure zunehme. „Der Staat muss hierauf eine systematische Antwort finden“, betonte der CDU-Politiker. Aus den gesellschaftlichen Veränderungen folgten zunehmende politische Konflikte mit Religionsbezug wie etwa Debatten über kirchliche Feiertage, über die Rolle religiöser Symbole in der Öffentlichkeit oder über den Muezzinruf. Eine gleichberechtigte Integration von Religionsgemeinschaften und bekenntnisloser Menschen zu gewährleisten, erhöhe den politischen Handlungsdruck. An einer gelingenden Religionspolitik zeige sich aber die „Integrations- und Innovationsfähigkeit von Demokratien“.

Die „Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche“

Die „Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche“ haben sich seit ihren Anfängen 1966 zu einem europaweit anerkannten überkonfessionell und interdisziplinär ausgerichteten wissenschaftlichen Fachkongress entwickelt, bei dem aktuelle Fragen zum Verhältnis von Staat und Kirche erörtert werden. Die Dokumentationsbände finden seit Jahren in Rechtsprechung und Fachliteratur Beachtung und werden in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zitiert.Immer im Frühjahr lädt der Bischof von Essen zu den „Essener Gesprächen“ in Bistumsakademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim ein. Die nächste Fachtagung – die „59. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche“ – findet am 11. und 12. März 2024 zum Thema „Staatliches und kirchliches Strafen“ statt.

Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung hätten das Verhältnis von Staat und Religion stark verändert, so Liminski. Zwar sei die heutige Gesellschaft immer noch mehrheitlich christlich geprägt, zeichne sich aber zugleich durch eine religiöse Vielfalt und eine zunehmende Zahl konfessionsloser Menschen aus. Dies stelle staatliches Handeln vor neue Fragen und Herausforderungen.

Liminski unterstrich die Wichtigkeit des traditionell kooperativen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in Deutschland. Das Modell einer „Trennung von Religion und Staat bei gleichzeitiger Kooperation“ habe sich bewährt und eine religiöse Aufladung politischer Fragen weitgehend verhindert, wie es sie in laizistischen Staaten wie etwa Frankreich gebe, in denen Staat und Kirche strikt getrennt sind. Man beobachte nur die Vororte von Paris.

Auch wenn sich die Kern-Zuständigkeit für Kirchen und Religionsgemeinschaften bei den Ländern bewährt haben, seien für die Realisierung einer positiven Religionspolitik jedoch alle staatlichen Ebenen einzubeziehen, schloss Liminski.

Overbeck: Was bedeutet im säkularen Zeitalter Christsein wirklich?

Bischof Franz-Josef Overbeck hatte bei der Eröffnung der Tagung am Montagvormittag unterstrichen, wie eng die Fragen des katholischen Reformprojekts Synodaler Weg mit dem diesjährigen Thema der Essener Gespräche verzahnt sind. „Eine zeitgemäße staatliche Religionspolitik hat sich neben der Berücksichtigung der gewachsenen Präsenz anderer Religionen und der europäischen Dimension des Themas immer wieder der Bedeutung zu vergewissern, die die christlichen Kirchen in unserer Gegenwart für die Menschen haben“, sagte Overbeck.

Religionspolitik – Auszug aus Manuskript des Tagungsleiters Prof. Dr. Arnd Uhle

„Aus dezidiert rechtswissenschaftlicher Perspektive lässt sich staatliche Religionspolitik im Lichte der bestehenden verfassungsrechtlichen Bindungen demgegenüber als Summe aller politischen Entscheidungen verstehen, die im Rahmen der grundgesetzlichen Vorgaben Einfluss auf die Ausgestaltung jener rechtlichen, gesellschaftlichen, finanziellen und sonstigen Rahmenbedingungen nehmen, die für die Entfaltung des religiösen Lebens der Bürger und für das Wirken der Religionsgemeinschaften sowie für deren Verständnis zum freiheitlichen, neutralen und kooperationsoffenen Verfassungsstaat maßgeblich sind.“

„Der Veränderungsbedarf einer institutionalisierten katholischen Kirche, die in ihrer gegenwärtigen volkskirchlichen Verfasstheit hierzulande radikal in Frage steht, ist mehr als offensichtlich“, betonte er. Am Samstag (11. März) war in Frankfurt die fünfte und letzte beschlussfassende Vollversammlung des Synodalen Wegs mit folgenreichen Reformentscheidungen zu Ende gegangen. Vor diesem Hintergrund führte Overbeck weiter aus: „Ein einfaches ‚Weiter so‘ ist schlichtweg ausgeschlossen, will man nicht mit großer Sicherheit in der vollkommenen Bedeutungslosigkeit versinken: Bedeutungslos in spiritueller, gesellschaftlicher und moralischer Hinsicht, aber eben auch bedeutungslos für das Wachhalten der Gottesfrage in einer Lebenswelt, die grundlegend geprägt ist durch säkulare Selbstverständlichkeiten.“

In einer säkularen Gesellschaft sei „der Glaube an Gott schlicht und ergreifend aus dem Gemenge unhinterfragt gültiger, gesamtgesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten verschwunden“, so Overbeck. Einer der „großen Kulturschritte“, die jetzt zu gehen seien, sei ein Bewusstsein für die Notwendigkeit zu schaffen, sich im säkularen Zeitalter mit der Frage auseinanderzusetzen, „was Christsein unter gegenwärtigen Bedingungen wirklich bedeutet“.

Overbeck: Ohne tiefgreifende Strukturveränderungen geht es nicht

Dies ginge nicht ohne tiefgreifende Strukturveränderungen. „Wenn wir es als Kirche ernstnehmen, konsequent auf die Stimmen derer zu hören, die von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt betroffen sind, dann ist es unsere Pflicht, alle Strukturen zu verändern, die diese schrecklichen Verbrechen begünstigt haben“, sagte Overbeck. Diese Pflicht, in Zukunft sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch wirksam zu verhindern, bestehe völlig unabhängig von der Frage, ob die Kirche durch solche Strukturveränderungen für die Menschen attraktiver werde.

Das traditionell partnerschaftliche Verhältnis von Staat und Religionen sei hierzulande genauso wenig statisch, wie die darauf aufbauende Religionspolitik, schlug Overbeck den Bogen zum diesjährigen Thema der Essener Gespräche. Es wäre „in mehrfacher Hinsicht fatal, jetzt nicht mit aller Entschiedenheit für eine ehrliche und synodal geprägte Erneuerung einzutreten. Eine Erneuerung, in der wir wieder unserem ureigenen Auftrag nachkommen können, nämlich die Erinnerungen an die Worte und Taten des Auferstandenen so weiterzugeben, dass sie unter den Menschen lebendig bleiben“. Nur so könne es gelingen, Vertrauen wieder zu gewinnen, das insbesondere für das partnerschaftliche Verhältnis von Staat und Kirche eine unabdingbare Voraussetzung bilde.

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