von Lisa Myland

Pfarrer in der Autobahnkirche: Zwischen Anonymität und Nähe

Seit zehn Jahren ist Michael Otto Pfarrer der evangelischen Autobahnkirche Ruhr in Bochum. Sie ist Ruhepol und Zufluchtsort für Menschen aus dem gesamten Ruhrgebiet, aber auch für Weitreisende, die täglich über die A40 fahren – ganz unabhängig von Herkunft, Konfession und Glauben.

Wenn Pfarrer Michael Otto auf dem Dach des Kirchturms der Epiphanias-Kirche steht, ist er umgeben vom ständigen Rauschen der Bochumer Großstadt: Auf der Dorstener Straße suchen sich Menschen zu Fuß ihren Weg durch den täglichen Berufsverkehr, alle paar Minuten rattert die Straßenbahnlinie 306 über die große Hauptstraße. Zwischen einem großen Discounter, Mehrfamilienhäusern und Garagenhöfen rauschen Autos und LKWs auf der A40 in Richtung Dortmund und Essen.

Auf dem rechteckigen Kirchturm aus dunklen Backsteinen steht auf einem großen Plakat weit lesbar: „Komm mal zur Ruhe – deine Autobahnkirche.“ Genau das ist die Botschaft, mit der Pfarrer Michael Otto seit zehn Jahren die Menschen, die an der Ausfahrt Bochum-Hamme an seiner Kirche vorbeikommen, zu einem Moment des Innehaltens einlädt. „Zu uns kann Jeder kommen, völlig egal, woher er kommt oder was er glaubt“, sagt der 54-Jährige. Täglich zehn Stunden sind die Türen der Kirche offen für alle, solche langen Öffnungszeiten gehören zu den Auflagen, die jede Autobahnkirche in Deutschland erfüllen muss.

500 Seiten voller Gedanken und Gebete

Die meisten Menschen, die sich in den Kirchenbänken ausruhen, einen Ort zum Nachdenken finden oder beten, sieht Pfarrer Otto nicht persönlich. Sie kommen aus dem Trubel des Alltags für einige Zeit in den ruhigen, hellen Kirchraum und verschwinden dann wieder in der Anonymität. Trotzdem weiß Otto, was die Menschen ausmacht, die hierherkommen. Auf einem Podest aus hellem, glatten Holz am Eingang der Kirche liegt ein Buch mit rund 500 Seiten. Hier sind Gedanken aufgeschrieben, Sorgen und Ängste oder Freuden und Fragen. „Danke, dass du unsere Oma bei dir hast“ steht auf einer Seite, auf einer anderen: „Ich frage dich warum? Warum hast du ihn einfach gehen lassen und ich bleibe alleine zurück?“.

„Die meisten Menschen schreiben etwas, wenn sie aus dem Krankenhaus oder von einer Beerdigung kommen“, sagt Otto. „Sie suchen in ihrer Trauer nach einem ruhigen Platz und einer Möglichkeit, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Sie kommen vor allem hier in der Nähe aus dem Ruhrgebiet. Aber es gibt auch die, die dankbar sind für diesen Ort, das sind eher die Weitreisenden, von denen viele immer mal wieder kommen.“ Ein weiteres großes Thema, das die Menschen in dem sogenannten Anliegenbuch verarbeiten, sei die Sehnsucht nach Liebe oder der Schmerz nach verlorenen Beziehungen. Die meisten seien Pendelnde, immer mal wieder Menschen am Steuer eines LKW, seltener Reisende auf der Durchfahrt. Auffällig sei auch die Vielfalt der Sprachen, osteuropäische Einträge sind immer wieder dabei, während der Flüchtlingskrise 2015 entdeckte Pfarrer Otto viele arabisch geschriebene Worte. So vielfältig wie die Sprachen und Schriften ist auch der Glauben der Menschen, die zur Autobahnkirche Ruhr der Selbstständig Evangelisch Lutherischen Kirche kommen, weiß er.

Tägliche Gespräche und spontane Momente

Wenn Michael Otto gleichzeitig mit Jemandem in der Kirche ist, spricht er die Personen nicht offen an, nur wenn sie es wünschen. Aber einen Lieblings-Stammgast hat er doch. „Ein Mann, der bei der Bochumer Müllabfuhr arbeitet, kommt fast jeden Tag, macht eine kurze Pause auf einer Bank und betet, bevor er in den Tag startet. Mit ihm unterhalte ich mich oft, für ihn ist das wie ein tägliches Ritual.“ Manchmal sind es die unvorhergesehenen Momente, die den Pfarrer besonders berühren. Vor einigen Jahren habe es auf der A2 einen schweren Unfall mit Todesopfern gegeben, die schockierten und trauernden Angehörigen suchten online nach einem Zufluchtsort und fanden die Bochumer Autobahnkirche. „Ich wollte eigentlich grade die Tür abschließen, als sie kamen“, erinnert sich Otto. „Wir haben dann spontan eine kleine Andacht in der Kirche gehalten, das war wirklich sehr bewegend.“ Aber auch die Begegnungen mit den Menschen, die zur Epiphanias-Gemeinde in Bochum gehören, sind für ihn immer wieder etwas Besonderes: Sehr intensiv hat er die Treffen mit Eltern in Erinnerung, deren Sohn auf dem Schulweg bei einem Straßenbahnunfall ums Leben kam.

Genau für solche Angehörigen bietet die Autobahnkirche jedes Jahr am ersten Novemberwochenende einen Gedenkgottesdienst für Opfer im Straßenverkehr. Polizei und Seelsorgende laden dazu ein, vor Ort bleiben die Angehörigen immer anonym. Auch Feuerwehr- und Notfallkräfte sind dabei, erzählen behutsam aber eindrücklich von ihren Erlebnissen bei tödlichen Unfällen auf den Autobahnen und Straßen des Ruhrgebiets. „Das ist vor allem wichtig, um auch ihnen Anerkennung für ihren Einsatz zu geben“, sagt Otto. „Es ist jedes Mal eine sehr intensive gemeinsame Stunde.“ Seit Beginn der Corona-Pandemie sei die Anzahl der tödlichen Unfälle deutlich gesunken, nach über zwei Jahren und vor allem zur dunklen Jahreszeit merke er, dass der Stress im Straßenverkehr rund um die Kirche wieder ansteige. „Es wird öfter gehupt, die Blaulichter werden wieder mehr, die Menschen sind angespannter“, sagt er.

Von der ruhigen Lausitz in die pulsierende Ruhrgebietsstadt

Wenn Pfarrer Otto spricht, ist zu hören, dass das Ruhrgebiet nicht seine ursprüngliche Heimat ist. Bis 2012 arbeitete er für die Selbstständig Evangelisch Lutherische Kirche in Guben in der Niederlausitz, eine 16.000-Einwohnerstadt nahe der polnischen Grenze. Der Umzug nach Bochum war für ihn und seine Familie eine große Umstellung, von der sehr ruhigen Gegend ging es in eine Wohnung direkt hinter die Schallschutzwand der A40. „Mittlerweile ist das aber nur noch ein Grundrauschen, das ich wahrnehme“, sagt er und lacht. Als die Anfrage für die Pfarrerstelle in der Bochumer Gemeinde kam, zögerte er nicht lange. „Die Arbeit in einer Großstadt hat mich gereizt, vor allem das Projekt Autobahnkirche. Es hat meinen Blick über das Traditionelle sehr geweitet, zeigt mir jeden Tag die Breite unserer Gesellschaft, was die Menschen bewegt, vor allem die Fremden, die nicht aus einer in sich geschlossenen Gemeinde hierhin kommen.“

Er ist angekommen, sagt er. Hat Kontakte geknüpft, ist über viele Stadtteile hinaus bekannt. Das tägliche Rauschen der A40 in Bochum-Hamme wird Michael Otto noch bis Anfang Dezember hören. Dann geht es für ihn rund 15 Kilometer weiter in den Südwesten, in Essen wird er in der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde am Moltkeplatz da sein: Mittendrin für die Menschen einer weiteren pulsierenden Großstadt.

Die Autobahnkirche Ruhr

Als die Epiphanias-Kirche 1929 gebaut und am 2. Februar 1930 eingeweiht wurde, lag sie an der Hindenburgallee (heute Dinnendahlstraße) und als repräsentatives Gebäude am Hindenburgplatz (heute Bodelschwinghplatz). Beide wurden von der damaligen Reichsstraße R1 gekreuzt, eine zweispurige Straße mit Kopfsteinpflaster. In den Sechzigerjahren wurde die dann B1 genannte Straße im Ruhrgebiet vierspurig als Autobahn ausgebaut. Heute fahren auf der A40 täglich weit über 100.000 Fahrzeuge täglich an der Autobahnkirche vorbei.

Die Idee, die Kirche an der A40 als Autobahnkirche zu eröffnen, entstand in der Vorbereitung des europäischen Kulturhauptstadtjahres 2010. Seit 2009 unterstützt der Trägerverein der Autobahnkirche Ruhr e.V das Projekt finanziell und mit ehrenamtlicher Mitarbeit. Stundenweise sind Mitarbeitende in der Kirche, um bei Bedarf Fragen der Gäste zu beantworten. Am 30. Mai 2010 wurde die Autobahnkirche Ruhr mit einem Gottesdienst eröffnet.

Autobahnkirchen gibt es in Deutschland seit etwa 70 Jahren, Träger sind evangelische und katholische Gemeinden, Rasthöfe oder Vereine. Die meisten der rund 50 Kirchen gehören zur Konferenz der Autobahnkirchen. Sie hat acht Kriterien für diese besonderen Kirchen festgelegt, dazu gehören etwa Öffnungszeiten, Entfernung von der Autobahn, Parkplätze und sanitäre Anlagen. Mehr Hintergrundinfos und Standorte aller deutschen Autobahnkirchen gibt es unter www.autobahnkirche.de. (Quelle: Autobahnkirche Ruhr)

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