von Thomas Rünker

Overbeck: Sorge vor Rückgang demokratischer Strukturen

Nach der “Zeitenwende” durch den Ukraine-Krieg stehen neben der Suche nach Friedenslösungen auch Fragen rund um die Demokratien in Osteuropa und in den USA auf der Agenda, so der Tenor des Diskussionsabends am Dienstag in der Mülheimer Bistumsakademie.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine stellt auch die christliche Ökumene vor große Probleme. Er sehe „auf der anderen Seite einen Bischofsbruder, der diesen Konflikt nach Kräften unterstützt“, sagte der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck am Dienstagabend bei einer Diskussion in der Mülheimer Bistumsakademie „Die Wolfsburg“. Der Moskauer Patriarch Kyrill I. ist das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche und wegen seiner Nähe zu Russlands Präsident Vladimir Putin international umstritten. „Es betrübt mich, dass wir als Kirchen nicht gemeinsam Wege beschreiten können, die zu mehr Frieden führen“, so Overbeck, der auch Militärbischof für die deutsche Bundeswehr und Vizepräsident der katholischen EU-Bischofskommission COMECE ist. Grund dafür sei „die Aggression des russischen Patriarchats“.

Vertretung für Strack-Zimmermann

Moderiert von „Wolfsburg“-Dozent Mark Radtke diskutierte Overbeck unter der Überschrift „Weltordnung im Wanken – Zeitenwende für die Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik“ mit der Politikwissenschaftlerin Andrea Gawrich aus Gießen, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Entwicklung und Frieden an der Uni Duisburg-Essen, Tobias Debiel, und dem FDP-Bundestagsabgeordneten und Verteidigungspolitiker Nils Gründer, der seine kurzfristig verhinderte Parteikollegin Marie-Agnes Strack-Zimmermann vertrat.

Während sich der Friedensforscher Debiel „zurückhaltend“ hinsichtlich der Frage eines religiösen Konflikts äußerte und die Perspektive des „imperialen Kriegs“ Russlands gegen die Ukraine betonte, unterstrich die Außenpolitik-Expertin Gawrich die Perspektive des Bischofs: Dieser Krieg markiere eine „Zeitenwende im Kampf zwischen den Konfessionen“. Bei Patriarch Kyrill sei ihrer Ansicht nach die Bezeichnung „Gotteskrieger“ angemessen – „ein Begriff, den wir sonst vor allem für Vertreter anderer Religionen verwenden“. Gawrich kritisierte indes, dass die katholische Kirche den „Aggressor Russland“ in ihren Stellungnahmen nicht deutlich genug benenne. „Es gibt genozidale Praktiken in diesem Krieg – und das mit Unterstützung einer christlichen Kirche!“

Schwerwiegende ethische Entscheidungen über Waffenlieferungen

Verteidigungspolitiker Gründer unterstrich die Position seiner Parteikollegin Strack-Zimmermann, dass der Krieg in der Ukraine militärisch gewonnen werden müsse. „Alles, was wir tun können, um die Ukraine darin zu unterstützen, ihr Selbstverteidigungsrecht auszuüben, sollten wir tun“, so Gründer. Das Signal an Putin müsse sein: „So kann man mit freien Völkern nicht umgehen!“ Er stehe „voll und ganz hinter den Waffenlieferungen an die Ukraine. Ich kann mir auch vorstellen, hier noch weiterzugehen.“ Zugleich sei jede Entscheidung für Waffenlieferung „eine schwerwiegende ethische Entscheidung. Den Mitgliedern im Verteidigungsausschuss ist sehr bewusst, dass diese Waffen Leben auslöschen“, betonte Gründer. „Wer in einen solchen Konflikt involviert ist, wird immer schuldig“, sagte Overbeck zu dieser politischen Situation und ergänzte mit Blick auf das Strack-Zimmermann-Zitat: „Ich kann verstehen, dass es militärisch gehen muss.“ Insgesamt warb der Bischof für eine Doppelstrategie „aus Realpolitik und stiller Diplomatie“, um im Hintergrund weiter nach Gesprächskanälen zu suchen. Dies entgegnete Overbeck auch einem Mitglied der christlichen Friedensinitiative Pax Christi, die in der öffentlichen Debatte eine einseitige Betonung der militärischen Perspektiven kritisierte.

Debiel betonte, dass der Krieg in der Ukraine „kein normaler, sondern ein asymmetrischer Krieg“ sei mit atomaren Drohungen und massiven Infrastrukturangriffen Russlands, denen die Ukraine wenig entgegenzusetzen habe. „Ich glaube eher, dass der Krieg in ein Patt mündet – und schließe deshalb nicht aus, dass es doch irgendwann zu Verhandlungen kommt.“ Gawrich hob hervor: Derzeit sei „die konventionell militärische Stärke die Garantie für die Ukraine, nicht überrannt zu werden.“ Wenn sich die Ukraine stark zeige, können dies vielleicht irgendwann „in ein Verhandlungsszenario münden, das wir uns jetzt noch nicht vorstellen können.“ Als alternatives Szenario regte sie eine UN-Mission für Gebiete an, die die Ukraine nicht zurückerobern kann.

Andrij Waskowycz, ehemaliger Präsident der ukrainischen Caritas plädierte indes für eine vollständige Befreiung der Ukraine. Alles andere „würde Russland nur eine Atempause geben“. Zugleich gehe es nicht nur um die Ukraine: „Die russische Aggression richtet sich gegen die ganze Welt“, betonte Waskowycz, der sich über den digitalen Livestream aus Kiew in der Diskussion gemeldet hatte.

Overbeck warnt vor „großen Gefahren für die liberale Demokratie“

Als eine erste Lehre aus dem Ukraine-Krieg plädiert Gawrich mit Blick auf die Entwicklung Russlands zu „höchster Vorsicht beim Rückgang demokratischer Strukturen! Wir haben übersehen, wie dramatisch es sein kann, wenn Russland immer autokratischer wird.“ Nun gelte es, gerade mit Blick auf Polen und Ungarn vorsichtig zu sein. Overbeck warnte angesichts der radikalen politischen Rhetorik in den USA vor „großen Gefahren für die liberale Demokratie“. Es gebe aber auch in der europäischen Bischofskonferenz COMECE „Vertreter, die bereit sind, um Katholizität zu erhalten, gewisse Liberalitäten aufzugeben. Das geht gar nicht!“, betonte der Bischof. Er sehe gerade die Christen in Deutschland in der Pflicht, für eine demokratische Regierungsform einzustehen, „um die Freiheit und die Rechte der Menschen zu schützen.“

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