von Jürgen Flatken

„Mit dem was hier abgeht, hatten wir echt nicht gerechnet“

Das Jugendhaus St. Altfrid bietet Tage religiöser Orientierung (TrO) an, in denen Jugendliche außerhalb von Schule Raum für ihre Fragen, Sorgen, Themen und Ängste finden.

Jugendliche erkunden interreligiöse Themen abseits des Schulalltags in St. Altfrid.

Diskussionen über Familie und Glauben fördern Verständnis und Respekt.

Geschützter Rahmen ermöglicht authentische Selbstentdeckung und Perspektivwechsel.

„Kommt Leute, dass geht noch schneller“, feuert Teamer Thomas die 15 Jugendlichen an, die alle die Lessing Realschule in Gelsenkirchen besuchen. „Wir haben 28,56 Sekunden gebraucht. Unter 20 sind drin. Das schaffen wir“, versucht er die jungen Menschen zu motivieren. Es ist halb vier Uhr nachmittags und „wuppen“ ist für die Gruppe im katholischen Jugendhaus St. Altfrid, der Bildungseinrichtung des Bistums Essen, angesagt – der „warm up“, um nach der Mittagspause durch Bewegung das Suppenkoma zu vertreiben. Die Gruppe steht im Kreis. Gespannt wartet sie auf das Startzeichen. Ihr Ehrgeiz ist geweckt, unter 20 Sekunden das Ziel. Und los geht’s: während zwei Jugendliche über einem Mitschüler ihre Hände zusammenschlagen, hockt sich dieser schnell hin, um sich direkt danach aufzurichten und vom Hinhocker zum Abklatscher zu werden. Einer Raupe gleich bewegt sich die so erzeugte Welle durch die Schülerschaft, bis sie wieder am Ausgangspunkt ankommt. Großes Gelächter erfüllt den Gruppenraum. „16,95 Sekunden“, verkündet Thomas unter lautem Jubel. 

Überraschende Eindrücke: Jugendliche erleben TrO-Tage in St. Altfrid

„Mit dem was hier abgeht, hatten wir echt nicht gerechnet“, sagt Jasim etwas außer Atem. „Ich dachte, wir gehen in eine Moschee oder Kirche und es wird voll langweilig. Aber es ist total schön hier“, bricht es aus dem sechszehnjährigen Schüler heraus. „Ich dachte auch, dass wir in ein Kloster gehen“, ergänzt Mitschüler Kasper. „TrO ist auf jeden Fall besser als Schule. Man muss nicht lernen“, erzählt der Fünfzehnjährige lachend. „Besonders die Aktivitäten mit den Teamern sind super und abwechslungsreich.“ Jasim und Kasper sind Teil einer interreligiösen Gruppe, die für zweieinhalb Tage in St. Altfrid eingecheckt hat: statt die Schulbank zu drücken sind „Tage religiöser Orientierung“ (TrO) angesagt. 

Raum für Jugendliche außerhalb traditioneller Lehrpläne

„Der Titel ist natürlich erst einmal völlig uncool und reißt niemanden vom Hocker“, gibt Kerstin Schumacher zu. Aber letztendlich sei „TrO“ ein Angebot, dass es in vielen deutschen Bistümern schon seit Jahrzehnten gebe und sich bewährt habe. „Wo haben Jugendliche sonst die Gelegenheit, sich einmal außerhalb schulischer Lehrpläne prozessorientiert mit ihren Fragen, Wünschen und Anliegen zu beschäftigen?“, umreißt die Referentin für TrO im Jugendhaus St. Altfrid den Inhalt der Tage.

Gleichzeitig sei es eine „gute Chance für Kirche, junge Menschen zu erreichen, die wir sonst nicht erreichen würden. Weil hier alle zusammenkommen, egal ob katholisch, evangelisch, muslimisch oder sonstwas“, freut sich die studierte Diplom-Sozialarbeiterin. Die Jugendlichen würden erleben, dass Kirche noch ein Interesse an ihnen habe. „Wir machen aber hier keinen Religionsunterricht“, betont Schumacher. „Der Glaube wird hier auf vielfältige Art begreif- und erfahrbar.“ Über erlebnis- und erfahrungsorientierte Angebote könnten die Teilnehmenden eigene Erfahrungen sammeln wie Vertrauen spüren, angenommen und gehalten werden. Urchristliche Erfahrungen. „Diesen Deutungshorizont kann ich nur anbieten. Wir wollen ja nicht mit der Jesus-Keule kommen nach dem Motto: `Na, hast du gespürt, dass Jesus dich gerade gehalten hat?´“ „Der junge Mensch steht hier mit seinen Sorgen, seinen Themen im Mittelpunkt. Es geht um eine Auszeit, die Raum für Fragen, Sorgen, Themen und Ängste und Sehnsüchte der Jugendlichen bietet und das in einem bewertungsfreien Kontext. Es ist ein „zielloses“ Format“, bringt es die 48-Jährige auf den Punkt. Es werde auf die Dynamik in der Gruppe reagiert. Deshalb würde jede Gruppe am ersten Tag auch mit den betreuenden Teamerinnen und Teamern das Thema für die Tage erarbeiten. 

Jugendliche reflektieren über Familie und Glauben

„Wir hatten mehrere Themen wie Liebe, Freundschaft oder Tod zur Auswahl“, erzählt Aladin. Letztendlich hätten sich die 15 Jugendlichen aber für das Thema „Familie“ entschieden. „Familie ist für uns alle sehr wichtig. Ohne Familie ist man nichts“, erzählt der Sechzehnjährige. Dabei hätten sie die Wichtigkeit und Bedeutung von Familie und Beziehungen näher beleuchtet, sich darüber ausgetauscht und diskutiert, ergänzt Kasper. „Dadurch haben wir unterschiedliche Blickwinkel und Ansichten erfahren“, freut sich Jasim. 

Aber auch der Glaube kam nicht zu kurz: „Ich bete auch hier fünf Mal am Tag“, betont Jasim und freut sich darüber, dass „hier jeder seinen Glauben leben kann. Das wird respektiert.“ Auch wenn man in einem katholischen Haus sei, könne er zu Allah beten. „Gott hat alle Menschen erschaffen, egal ob Moslem, Christ oder Jude. Wir alle sind Menschen und stehen mit unserem Glauben vor Gott.“ Für Kasper war es wichtig, sich miteinander auch in Glaubensdingen vertraut zu machen. „Ich selber bin gerade auf der Suche“, gibt der Katholik einen persönlichen Einblick. Deshalb fand er die die Impulse, die morgens und abends stattfanden, „echt toll. Durch die Geschichten der Teamer bin ich ins Nachdenken gekommen.“ „Die Impulse sind uns wichtig und ein fester Bestandteil im Tageablauf“, betont Schumacher. „Wir wollen die Jugendlichen nicht mit Bibellesungen verschrecken, sondern jugendgemäß mit Musikvideos oder Geschichten, Brücken zu ihnen bauen, um gemeinsam zu schauen: was hat das mit mir, meinem Alltag und vielleicht auch mit meinem Glauben zu tun?“

Eine geschützte Umgebung: Jugendliche entdecken sich selbst und erleben Lehrkräfte neu

Damit die Jugendlichen einfach einmal ganz sie selbst sein dürfen, „sind die Lehrkräfte bei den Einheiten morgens und nachmittags nicht dabei“, erklärt die Referentin. „Die Jugendlichen sollen von sich erzählen können, ohne die Angst haben zu müssen, dass es ihnen in der Schule vor die Füße fällt.“ Die TrO-Tage als geschützter Raum. Gleichzeitig sei es aber gut, dass „die dabei sind: da die Gruppe die Lehrkraft einmal anders erleben kann. Und er die Schülerschaft einmal anders erlebt, außerhalb des getakteten Schulalltags“.

Tage religiöser Orientierung (TrO)

Tage religiöser Orientierung sind ein konfessions- und religionsübergreifendes Angebot für Schulen. Jugendliche aller Schulformen ab Klasse 9 bekommen außerhalb der Lehranstalt die Möglichkeit, ihre persönlichen Lebens- und Glaubensfragen zu bearbeiten und sich darüber neu und besser kennenzulernen. TrO bieten die Möglichkeit, sich die Frage nach Gott und dem eigenen Glauben zu stellen. In den zweieinhalb bis fünf Tagen wird gemeinsam mit zumeist zwei Teamenden geschaut, was das eigene Leben ausmacht. Das Thema legt die Gruppe selbst fest. TrO fördern und fordern eine Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und dem persönlichen Umfeld und können das Miteinander stärken.

Ins katholische Jugendhaus St. Altfrid, der Jugendbildungseinrichtung des Bistums Essen, kommen etwa 40 Gruppen pro Jahr mit ungefähr 2.000 Teilnehmenden zu den Tagen religiöser Orientierung, einzelne Klassen, aber auch ganze Jahrgänge. 

„Unsere Schule kommt seit 18 Jahren hierher“, erzählt Eva Wawro, Lehrerin für katholische Religion. „Denn es ist uns wichtig, dass unsere Schülerschaft sich einmal andere Erfahrungsräume erschließen und jenseits des Unterrichts neue Erfahrungen sammeln kann. Ohne Noten, ohne Druck.“ Die Lessing Realschule sei ein total bunter Haufen aus unterschiedlichen Nationalitäten und Glaubensrichtungen. „Wir haben 90 Prozent Migrationshintergrund“, wirft die muslimische Religionslehrerin Saniye Özmen ein. Ihre 15 Jugendlichen aus der 10. Jahrgangsstufe nähmen im Zuge des multireligiösen Begegnungslernens an den TrO-Tagen teil. „Auch, um sich mit anderen Religionen auseinanderzusetzen“.

„Wir sind ja mit einer interreligiösen Gruppe unterwegs. Wir Lehrerinnen sind ja auch als religiös gemischtes Duo unterwegs und können so Vorbilder für unsere Schülerschaft sein“, erklärt Wawro und freut sich darüber, dass „wir hier eine enge Begegnung untereinander, ein gutes Miteinander zwischen den Jugendlichen erleben. Das ist schon etwas ganz Besonderes“ Der Geist dieser Tage mache sich bei den jungen Menschen bemerkbar. Es herrsche eine besondere Stimmung in der Gruppe und untereinander. „Jede Gruppe, die hier war, kommt anders aus den Tagen heraus, als sie reingegangen ist.“ – In diese Tage der religiösen Orientierung in St. Altfrid.

Ansprechpartnerin

Referentin für Tage religiöser Orientierung

Kerstin Schumacher

Charlottenhofstr. 61
45219 Essen

Pressestelle Bistum Essen

Zwölfling 16
45127 Essen