Im Gespräch mit Betroffenen lernen
Was sexualisierte Gewalt im Bistum Essen in den vergangenen Jahrzehnten begünstigt hat, steht seit Dienstagmittag, 14. Februar, in einer 424-seitigen Studie zum Nachlesen bereit. Was ein wichtiger Schritt ist, um diese Gewalt bestmöglich zu verhindern, wurde am Dienstagabend in der Bistumsakademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim deutlich: Darüber reden. Und zwar nicht irgendwie theoretisch-abgehoben, sondern sehr persönlich, sehr konkret – und vor allem mit Betroffenen, die unter der Gewalt oft ein Leben lang leiden, die ihnen Priester, Ordensleute, Jugendleiter oder andere kirchliche Beschäftigte angetan haben. Dass dies auch 13 Jahre nach dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche in Deutschland immer noch eine Seltenheit ist, betonte der Gelsenkirchener Johannes Norpoth, Betroffener und Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz, vor rund 250 Gästen in der „Wolfsburg“: Der Betroffene Stefan Bertram werde demnächst vor dem Priesterrat des Ruhrbistums sprechen. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass dann einige Priester dabei sein werden, die zum ersten Mal die Stimme eines Betroffenen hören“, sagte Norpoth auf dem Podium der Veranstaltung, bei der die Studie „Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen“ vorgestellt und diskutiert wurde.
Stiefvater glaubte dem befreundeten Priester mehr als dem missbrauchten Kind
Dass ein Gespräch wie das im Priesterrat die Sicht auf das abstrakte Thema „Missbrauchsskandal“ verändert, konnten die Gäste in der „Wolfsburg“ selbst spüren. Zwar musste Bertram seine Teilnahme an dem Abend aus persönlichen Gründen absagen - es wäre rund um die Studienveröffentlichung der dritte Auftritt in 24 Stunden gewesen. Dafür stellte Norpoth gemeinsam mit Moderator Uwe Schulz eine Facette aus Bertrams Leidensgeschichte dar, die so typisch für die Verwicklungen zwischen Tätern, Betroffenen, ihrem direkten Umfeld und den Kirchengemeinden ist, wie sie in der Studie auf erschütternde Weise beschrieben werden: Als Bertram seinerzeit als Kind seinen Eltern von dem Missbrauch durch den Kaplan ihrer Bottroper Gemeinde berichtete, glaubte sein Stiefvater dem mit ihm gut befreundeten Priester mehr als dem Kind.
Dass missbrauchten Kindern nicht geglaubt wird, kennzeichnet Missbrauchsfälle in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dass aber beschuldigte Priester trotz Berichten über sexuelle Grenzverletzungen und Gewalt weiter „Fanclubs“ um sich scharen konnten, wie Norpoth es nannte, das beschreibt die Aufarbeitungsstudie als typische Effekte in katholischen Gemeinden. „Nahezu durchgängig kam es zu Spaltungen in den Kirchengemeinden. Ein großer Teil solidarisierte sich mit dem Pfarrer, wenn der Vorwurf der sexualisierten Gewalt gegen ihn erhoben wurde, während ein anderer, oft sehr kleiner Kreis um die Betroffenen wie z.B. die direkten Familienangehörigen sozial ausgegrenzt wurde“, fasst es das Forschungsteam um Helga Dill vom Münchener Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) zusammen. Dies sei auch ein historisches Erbe der Kirche, die ihre Priester jahrhundertelang als etwas Heiliges und Unangreifbares dargestellt habe.
Blick der Studie auf die Kirchengemeinden ist ungewöhnlich
Auf diese Folgen von Missbrauchsfällen zu schauen und zu beschreiben, wie gerade Gemeinden darauf reagiert haben, das ist das Neue und Ungewöhnliche an der Studie des IPP. Dass dies keine leichte Kost ist, darauf hatte Moderator Schulz sein Publikum schon zu Beginn des Abends vorbereitet. Die Diskussion werde eine „Zumutung”, an deren Ende sich wohl jeder frage: „Was muss ich tun, was habe ich getan, was hätte ich tun können?“
Was zumindest die Bistumsverwaltung hätte tun können, um Missbrauchsfälle zu verhindern und „Täterkarrieren“, wie sie das Forschungsteam nennt, zu stoppen, beschreibt die Studie in sechs ausgewählten Fällen mit zahlreichen „kritischen Momenten“: Beschwerden, nach denen ein Priester schnell in eine andere Gemeinde versetzt wurde, eindeutige Briefe, auf die niemand reagierte, oder selbst strafrechtliche Ermittlungen, bei denen das Bistum sich sehr um den Priester, aber nicht um die Betroffenen gekümmert hat. „Es gab über Jahrzehnte ein grundlegendes Nicht-Verstehen, was sexualisierte Gewalt eigentlich ist“, versuchte die Soziologin Dill diese heute kaum nachvollziehbar erscheinende Vertuschungs- und Versetzungspraxis zu erklären: „Damals gab es die Idee, dass es sich um ein einmaliges Versagen handelt: Wenn jemand so etwas macht, ist das so schlimm, das wird er schon kein zweites Mal machen. Da war Versetzen eine Perspektive. Das war über viele Jahre das Mittel der Wahl.“ Letztlich, beschreibt die Studie, gebe es zumindest in der Priesterausbildung bis heute eine Vermischung der rein kirchlichen Sichtweisen auf „Sexualität“, „Homosexualität“ und „Zölibat“ – mit der Gefahr, dass man dies nicht präzise genug von auch gesellschaftlich sanktionierten Grenzverletzungen bis hin zu strafrechtlich relevanter sexualisierter Gewalt abgrenze.
Priesterseminar als „eigenwilliges Sozialisationsmilieu“
Der Priesterausbildung widmet die Studie ein breites Kapitel, in dem das Priesterseminar als „eigenwilliges Sozialisationsmilieu“ beschrieben wird, in dem den jungen Männern „wichtige alltagspraktische, soziale und emotionale Bewährungserfahrungen vorenthalten“ würden und deshalb die menschliche Entwicklung ins Stocken geraten könne. „Wer da gelebt hat, der wusste auch damals schon: Das ist komisch, da stimmt was nicht“, erinnerte sich Generalvikar Pfeffer an seine eigene Zeit im Seminar. Und er betonte: „Heute können wir darüber sprechen, das ist wichtig.“ Bischof Overbeck hob hervor, dass „es heute eine andere Perspektive auf Sexualität und auf den Menschen gibt“, als in früheren Zeiten und dass dies mitnichten nur unter katholischen Christinnen und Christen in Deutschland diskutiert werde. Ein Bischof aus einem anderen Teil der Weltkirche habe ihm berichtet, dass, wenn er alle Priester, von denen er wisse, dass sie homosexuell lebten, wegschicke, kaum noch jemand da sei.
„Doppelbödigkeit“ der katholischen Sexualmoral
Diese „Doppelbödigkeit“, wie die Studie schreibt, das Auseinanderklaffen von kirchlichen Regeln und „dem wahren Leben“, wie Generalvikar Pfeffer sagte, „die gibt es doch nicht nur bei uns Priestern“. So dürfe Sexualität laut Katechismus ausschließlich in einer gültigen katholischen Ehe praktiziert werden, „aber wer bekommt das denn hin?“, fragte Pfeffer und blickt in viele zustimmende Gesichter. Viele Themen in der Kirche seien „pure Fassade. Alle wissen, darunter sieht es anders aus, aber reden konnte darüber bislang kaum jemand?“ Am Beispiel der Priesterausbildung sehe man, wie „toxisch“ diese Fassaden wirken könnten.
Geht es um Konsequenzen aus der Aufarbeitungsstudie, wird zunächst weiter das Reden im Fokus stehen. Es wird in allen Städten und Kreisen des Bistums Essen Informations- und Diskussionsveranstaltungen zur Studie geben – und im Bischöflichen Generalvikariat ein strukturiertes Arbeiten mit den zahlreichen Empfehlungen rund um Verbesserungen der Aufarbeitung, der Prävention von sexualisierter Gewalt und der Intervention, die das Team um Dill der Bistumsleitung aufgeschrieben hat. „Das können wir auf jeden Fall nicht allein“, betonte Generalvikar Pfeffer, dass das Bistum weiter auch auf externe Hilfe setzt. „Die Studie ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Menschen von außen bei uns hereingucken.“
Dill selbst warnte die Bistumsverantwortlichen: „Bitte jetzt nicht in blinden Aktionismus geraten, um alle Empfehlungen abzuarbeiten, die in der Studie stehen, nichts überstürzen. Ganz wichtig ist es, die Menschen immer mitzunehmen, viel zu reden, viel zuzuhören – und vor allem die Betroffenen einzubeziehen und ernst zu nehmen.“
So, wie am Dienstagabend auf dem „Wolfsburg“-Podium.