Essener Gespräche betonen Grenzen des kirchlichen Strafrechts bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche
Essener Gespräche beleuchten Grenzen kirchlichen Strafrechts bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt.
Bischof Overbeck betont Notwendigkeit einer Perspektive der Betroffenen für adäquate Aufarbeitung.
Vatikan-Vertreter Bauer analsysiert Entwicklungen und Anpassungen im kirchlichen Strafrecht.
Der Essener Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck hat im Zusammenhang mit der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche die Grenzen des kirchlichen Strafrechts betont. „Vor dem Hintergrund der Erkenntnis der besonderen Relevanz der Betroffenenperspektiven für eine adäquate Aufarbeitung zeigen sich hier gewisse Grenzen kirchlichen Rechts“, sagte Overbeck in der Bistumsakademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim bei den 59. Essener Gesprächen zum Thema Staat und Kirche.
Bei der renommierten Fachtagung, die in Verantwortung der „Wolfsburg“ durchgeführt wird, diskutierten rund 110 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik, Kirche und Verwaltung zwei Tage (11.+12. März) unter dem Titel Kirchliches und staatliches Strafrecht. Geleitet wird die Tagung seit 2018 vom Leipziger Staats- und Verfassungsrechtler Prof. Dr. Arnd Uhle und Akademiedirektorin Dr. Judith Wolf.
Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche
Die Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche haben sich seit ihren Anfängen zu einem europaweit anerkannten überkonfessionell und interdisziplinär ausgerichteten wissenschaftlichen Fachkongress entwickelt, bei dem aktuelle Fragen zum Verhältnis von Staat und Kirche erörtert werden. Die Dokumentationsbände finden seit Jahren in Rechtsprechung und Fachliteratur Beachtung und werden in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zitiert.
Immer im Frühjahr lädt der Bischof von Essen zu den Essener Gesprächen in die Wolfsburg ein. Die 60. Essener Gespräche werden sich am 17. und 18. März 2025 unter anderem mit der Anstaltsseelsorge beschäftigen. Diese Form der Seelsorge richtet sich speziell an Menschen in staatlichen Einrichtungen wie Gefängnissen, Krankenhäusern oder Pflegeheimen.
Missbrauchsfälle markieren Leerstellen des kirchlichen Strafrechts
„Die Verletzungen, die durch sexualisierte Gewalt entstehen, treffen zuerst und in existentieller Weise die Betroffenen der jeweiligen verbrecherischen Gewalttaten“, unterstrich Overbeck. Das sei seitens der Verantwortlichen in der Kirche und auch vom Kirchenrecht lange Zeit zu wenig und bis in die Gegenwart nicht hinreichend wahrgenommen worden. „Zu sehr stand der Schutz der kirchlichen Institution und ihrer Repräsentanten im Mittelpunkt“, so Overbeck.
Der Ruhrbischof hob hervor, dass das kirchliche Strafrecht von dem Anliegen des besonderen Schutzes der Kirche und ihrer Amtsträger geprägt sei. „Doch im Fall der Missbrauchsfälle hat sich diese Einordnung seitens des Kirchenrechts als unterkomplex erwiesen“, unterstrich der Bischof. Angesichts der vielfältigen Verletzungen, die Betroffene erlitten haben stellt sich die Frage, ob kirchliches Recht allein diesem Leid angemessen gerecht werden kann.
Unabhängige Aufarbeitung ist schwierig, wenn sie einen selbst betrifft
Overbeck machte deutlich, dass trotz wichtiger Fortschritte „letztendlich aber keine Organisation unabhängige Aufklärung und Aufarbeitung leisten“ könne, „wenn es sie selbst betrifft“. Dies habe die katholische Kirche lange Zeit nicht eingesehen. Selbstverständlich stehe sie in der Pflicht, Aufarbeitung, Intervention und Prävention sicherzustellen. „Aber wir müssen auch ehrlich eingestehen, dass wir allein an Grenzen kommen“, bekräftigte Overbeck.
Das Bistum Essen habe innerhalb der Grenzen des geltenden Kirchenrechts bereits strukturelle Veränderungen vorgenommen, um sexualisierte Gewalt aufzuarbeiten und Prävention und Intervention zu verstärken. Dabei seien beispielsweise neue Leitungsmodelle eingeführt worden, die auf eine geteilte Macht und eine diverse Besetzung von Teams achteten, und die Schulungen für Mitarbeitende seien verstärkt worden. „Ich weiß, dass das alles nur Anfänge sind“, sagte Overbeck.
Die Referierenden 2024
Zu den Referierenden der Fachtagung gehörten in diesem Jahr außerdem der Tübinger Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Stephan Dusil, die Kirchenrechtlerin Prof. Dr. Sabine Konrad aus Graz, der Leiter der Rechtsabteilung des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Oberkirchenrat Dr. Christoph Thiele aus Hannover, der Berliner Strafrechtler Prof. Dr. Alexander Ignor, der Strafrechtler Prof. Dr. Martin Heger aus Berlin und die Richterin am Oberlandesgericht Braunschweig, Dr. Barbara Rox.
Schwere Schuld der Kirche sitzt tief im gesellschaftlichen Gedächtnis
Die Veröffentlichung der sogenannten MHG-Studie im Herbst 2018 markiere eine „Zäsur im Leben der katholischen Kirche in Deutschland“. „Das Bewusstsein, dass die Kirche als Gesamtinstitution und nicht nur in Bezug auf einzelne ihrer Repräsentanten schwere Schuld auf sich geladen hat, ist tief in das gesellschaftliche Gedächtnis der Menschen eingedrungen“, sagte Overbeck. Wer auch immer Kritik an der katholischen Kirche üben möchte, nehme dabei Bezug auf diesen Schuldzusammenhang. Viele brächten ihr verlorenes Vertrauen in die Kirche als Institution zum Ausdruck, indem sie ihr den Rücken kehrten und austräten.
Der Bischof gab zu bedenken, dass der sexuelle Missbrauch auch auf einer Glaubensebene Verletzungen verursacht habe – „wiederum zuerst bei den Betroffenen, aber auch bei vielen anderen Gläubigen sowie der kirchlichen Glaubensgemeinschaft als Ganzes“. „Dennoch dürfen diese Verletzungen nicht außer Acht bleiben, weil der Glaube für Menschen von existenzieller Bedeutung ist“, sagte Overbeck. Dass viele Gläubige durch das Ausmaß des Skandals um sexualisierte Gewalt nicht nur das Vertrauen in die Kirche verloren hätten, sondern auch „existenzielle Glaubenszweifel“ erlebten, gehöre ebenso zu den „schwerwiegenden Folgen der Missbrauchstaten“. „Diese religiöse Dimension kann das staatliche Recht allerdings nicht abbilden. Umso mehr muss das kirchliche Strafrecht auch diese Dimension in den Blick nehmen“, sagte Overbeck.
Dikasterium für die Glaubenslehre
Das Dikasterium für die Glaubenslehre ist eine der neun Kongregationen der römisch-katholischen Kirche und im Vatikan eine der wichtigsten Institutionen innerhalb der Kurie, der zentralen Verwaltung der katholischen Kirche. Es ist direkt dem Papst unterstellt und wird von einem Präfekten geleitet, der in der Regel ein Kardinal oder hochrangiger Geistlicher ist. Die Arbeit der Dikasterien spielt eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Lehren und Richtlinien der Kirche und bei der Unterstützung des Papstes bei der Leitung der Kirche.Das Dikasterium für die Glaubenslehre hat die Aufgabe, die Glaubenslehre der katholischen Kirche zu bewahren und zu verteidigen sowie die Einheit im Glauben zu erhalten und die Treue zur Lehre der Kirche zu fördern. Zum Aufgabengebiet gehören auch die Untersuchung und Bearbeitung schwerwiegender Verstöße wie sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige durch Kleriker.
Vatikan-Vertreter analysiert Entwicklung des kirchlichen Strafrechts
Manfred Bauer, Vertreter des Dikasteriums für die Glaubenslehre in Rom, einer der wichtigsten Institutionen im Vatikan, beleuchtete präzise die Geschichte und Entwicklung des kirchlichen Straf- und Sanktionsrechts in Bezug auf sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und analysierte die jüngsten Gesetzesänderungen und ihre Auswirkungen auf die Bestrafung von Tätern.
In seinem Vortrag führte Bauer durch die verschiedenen historischen Stadien, in denen das Kirchenrecht Regelungen zum Schutz Minderjähriger vor sexuellem Missbrauch festlegte. Besonders betonte er die Möglichkeit, durch das Dikasterium für die Glaubenslehre im Einzelfall sogar eine bereits eingetretene Verjährung aufzuheben. Von den Bestimmungen im Kanonischen Recht von 1917 bis hin zum Straf- und Sanktionsrecht von 2021 seien „massive Nachbesserungen und Verschärfungen vollzogen“ worden, der „Prozess der Anpassung“ halte aber weiterhin an.
Neben dem kirchenrechtlich geprägten Blick auf die Missbrauchsaufarbeitung stand insbesondere am zweiten Tagungstag ein Perspektivwechsel hin zur Seite des staatlichen Strafrechts auf der Agenda. Unter anderem ging es dabei auch um Grenzen und Weiten der geschützten Freiheitsräume, zum Beispiel mit Blick auf die Religionsfreiheit oder den Umgang mit religiös motivierten Tatbeständen. Vor allem das Kirchenasyl als meist geduldeter Sonderfall zivilen Ungehorsams erwies sich in dieser Hinsicht als fruchtbare Diskursgrundlage für die Frage nach der rechtlichen Regelung dieser Freiheitsräume.