Ein Pfarrer, ein Hund – und viele Baustellen
Mit über 100.000 Einwohnern könnten die sieben Stadtteile im Essener Nordosten eine eigene Großstadt sein. Neun Kirchen gibt es hier für rund 31.700 katholische Menschen zwischen Uni-Campus, der Gelsenkirchener Stadtgrenze und dem Rhein-Herne-Kanal. Wer sich der vor fünf Monaten neu entstandenen Pfarrei Hll. Cosmas und Damian nähern möchte, sollte mobil sein – oder schaut erst einmal bei Instagram: Unter „lotta_officedog“ meldet sich dort regelmäßig die kleine Promenadenmischung aus dem Katernberger Pfarrbüro mit Bildern und Texten aus dem Leben der neuen Pfarrei, einer der größten im Bistum Essen.
Inhaltlich füttert Gemeindereferentin Natallia Charnichenka Lottas Instagram-Kanal und erreicht mit ihren Fotos und kurzen Texten derzeit rund 600 Abonnentinnen und Abonnenten. Das sind deutlich mehr Kontakte als sie Pfarrer Ingo Mattauch in einer Sonntagsmesse zählt. Doch die tierische Konkurrenz nimmt der im Frühjahr aus Gelsenkirchen in die Nachbarschaft nach Essen gewechselte Priester sportlich – nicht nur als Hundefan, sondern als Seelsorger. Er weiß, dass für die Kirche jeder Kontakt wertvoll ist, digital wie analog, und manchmal eben auch auf vier Beinen. Bei Mattauch sind es jedoch meist vier Räder, auf denen er in seinem grünen Kleinwagen im Essener Norden unterwegs ist. Und wenn er dann über „die vielen Baustellen“ spricht, meint er manchmal nicht nur die auf der Straße, sondern eben auch die in der neuen, zusammenwachsenden Pfarrei.
„Wertemeile“ in Altenessen soll Gespräche im Stadtteil fördern
Da ist zum Beispiel St. Johann Baptist in Altenessen. 2019 ist die Gemeinde hier stadtweit in die Schlagzeilen geraten: Der Kirchenvorstand wollte die Pfarrkirche samt Grundstück verkaufen, um Platz zu machen für einen größeren Neubau des benachbarten katholischen Krankenhauses. Dann wurde der Neubau wieder abgesagt – und die Klinik gleich ganz geschlossen. Die Kirche bleibt. Und mit ihr die Wunden, die der Streit zwischen Befürwortern und Gegnern des Kirchenverkaufs in der Gemeinde gerissen hat. Für etwas Heilung soll hier die neue „Wertemeile“ sorgen, ein vom Innovationsfonds des Bistums mitfinanziertes Kunst- und Gesprächsprojekt. Dafür war der Streit um die Kirche der Anlass, nun will die Gemeinde die „Wertemeile“ aber für alle Gruppen in Altenessen öffnen. „Wir möchten die Menschen im Stadtteil miteinander ins Gespräch bringen“, sagt Kirchenvorsteher Ulrich Hütte. „Wir wollen über Werte reden – und wie wir hier miteinander umgehen.“ Bunte Mosaike sollen dabei das Vehikel sein: Mit dem Dortmunder Künstler Robert Kaller soll es bei Workshops mit Vertreterinnen und Vertretern der Gruppen darum gehen, die gemeinsamen Werte für ein gutes Zusammenleben in einem Mosaik darzustellen. Erste Beispiele hängen schon am Eingang von St. Johann Baptist – in den kommenden Wochen sollen die ersten Gespräche starten.
Bedarf für den ökumenischen Gabenzaun ist nach wie vor groß
Ein paar Meter weiter steht der offene Pavillon, unter dem an Fronleichnam, 3. Juni, Bischof Franz-Josef Overbeck die Messe zur Gründung der neuen Pfarrei und zu Mattauchs Einführung gefeiert hat. Mattauch erzählt, wie intensiv man zuvor im gesamten Pfarrgebiet nach einem Ort für eine coronagerechte Freiluftmesse gesucht hat, bis schließlich nur noch der Karlsplatz übrig blieb, zwischen der umstrittenen Kirche, dem geschlossenen Krankenhaus und dem benachbarten Biergarten. Es sollte wohl so sein – denn da, wo vor fünf Monaten Messe gefeiert wurde, laden Hütte und viele andere Gemeindemitglieder Samstag für Samstag Bedürftige an den „Gabenzaun“. Ein wichtiges caritatives Projekt der Pfarrei: Seit der ersten Corona-Hochphase im April 2020 werden so Familien und Alleinstehende mit haltbaren Lebensmitteln, Obst, Gemüse, Backwaren oder Hygieneartikeln versorgt – hygienisch verpackt in wöchentlich 90 Tüten, so dass die Gäste des Gabenzauns ohne „Grabbeltische“ und Schlange stehen versorgt werden. „Letzten Samstag sind wir mit den 90 Tüten nicht ausgekommen“, macht Pfarrgemeinderatsmitglied Michael Rüsing den Bedarf für das Angebot deutlich. Und wenn sich noch ein paar Ehrenamtliche melden, könnte auch die „Sozial-Sprechstunde“ wieder öffnen, ergänzt Hütte.
Pfarrer, moderierender Priester und Schalke-Fan
Der 1964 in Wanne-Eickel geborene Ingo Mattauch wurde 1993 in Essen zum Priester geweiht. Nach verschiedenen Stationen als Kaplan und ab 2001 als Pfarrer in Mülheim und Duisburg kam er 2012 nach St. Joseph in Gelsenkirchen-Schalke. Zusammen mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern der Pfarrei und Ehrenamtlichen entwickelte der Schalke-Fan dort die "Offene Kirche Schalke": Unter dem Motto "Vorm Spiel is inne Kirche" lädt die Gemeinde bei Heimspielen des Zweitligisten die Fans auf dem Weg zum Stadion zum Besuch in dem blau-weiß geschmückten Gotteshaus ein. In Essen hat Mattauch neben seinem Job als Pfarrer noch eine weitere Aufgabe: Seit Oktober unterstützt er die beiden neuen Pfarrbeauftragten Sabine Lethen und Stephanie Czernotta als moderierender Priester in der Leitung der Essen-Frintroper Pfarrei St. Josef.
Katholische Gemeinde nutzt die evangelische Nachbarkirche
„Das Tolle ist, das viele dieser Angebote in unserer Pfarrei ökumenisch laufen“, freut sich Pfarrer Mattauch. Beim Gabenzaun war von Beginn an die evangelische Nachbargemeinde beteiligt. Und wenn man in Hl. Cosmas und Damian unterwegs ist, erwähnt immer mal wieder jemand den „Ökumenischen Lauftreff“ auf Zollverein (mittwochs 18.30 Uhr ab Eingang Ruhrmuseum). So auch an der evangelischen Thomasgemeinde in Stoppenberg, der nächsten Station auf der „Baustellen-Route“ mit Pfarrer Mattauch. Dort bieten Pfarrerin Claudia Link und die Gemeindemitglieder jetzt immer mehr Gruppen aus der ehemaligen katholischen St. Nikolaus-Gemeinde eine Unterkunft. Mitten im Corona-Lockdown hatte die Pfarrei St. Nikolaus die Jugendstilkirche an die chaldäische Gemeinde abgegeben. Damit ist das eindrucksvolle Gotteshaus zwar als Gebäude gerettet, aber die katholische Ortsgemeinde war ein Stück weit obdachlos. „Da haben wir noch viel Nachholbedarf, was Abschied- und Trauerarbeit betrifft“, gibt Mattauch zu – und freut sich doch, mit den evangelischen Nachbarn eine so pragmatische Lösung gefunden zu haben. Nach Treffen in den „evangelischen“ Gruppenräumen haben die Frauen von der kfd jüngst sogar ihre erste Messe in der Thomaskirche gefeiert. Wie passend, dass die dortige Küsterin Victoria Winkelmann als Jugendliche noch katholisch war und als ehemalige Messdienerin weiß, was bei einer Messe anders ist, als beim evangelischen Gottesdienst. „Mir ist wichtig, dass wir als Christen hier im Stadtteil mit einer Stimme sprechen“, sagt Pfarrerin Link – und Mattauch nickt ihr zu. Dass seine Amtskollegin in Stoppenberg nun gelegentlich auch für katholische Anliegen angesprochen wird, ist ihm sehr recht.
Von Schalke ins Revier von Rot Weiß Essen
Er ist halt ein Teamspieler, der Pfarrer, der zuletzt in Schalke tätig war. Mit den vielen Rot-Weiß-Essen-Fans in seiner neuen Pfarrei fremdelt Mattauch noch ein wenig – aber die Idee, dass Seelsorge heutzutage nur als Mannschaftssport funktioniert, die möchte er auch mit seinen neuen Kolleginnen und Kollegen im Pastoralteam des Essener Nordostens leben. Wichtig ist ihm das durch den Zusammenschluss gewachsene Team aus hauptberuflichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern und die vielen Ehrenamtlichen in den verschiedenen Gremien und Gruppen. In solch großer Runde könnten die Talente und Fähigkeiten der Einzelnen doch viel besser zur Geltung kommen und dort eingesetzt werden, wo sie gebraucht würden. Selbst in der Leitung der Pfarrei kann er sich ein Teammodell vorstellen – „vielleicht mit Haupt- und Ehrenamtlichen zusammen“.
Die neue Pfarrei Hl. Cosmas und Damian
Mit rund 31.700 Gläubigen ist die neue Pfarrei Hl. Cosmas und Damian in etwa so groß wie die Pfarrei St. Urbanus in Gelsenkirchen-Buer, die bislang als größte Pfarrei des Ruhrbistums galt. Mit gut 33.000 Gläubigen noch etwas größer ist nur die in diesem Sommer ebenfalls durch einen Zusammenschluss erweiterte Gelsenkirchener Innenstadtpfarrei St. Augustinus.
Die Pfarrei Hl. Cosmas und Damian umfasst die Essener Stadtteile Altenessen, Katernberg, Schonnebeck, Stoppenberg, Frillendorf und den nördlichen Teil von Kray. Pfarrkirche ist St. Joseph in Katernberg. Cosmas und Damian sind Schutzpatrone der Stadt und des Doms in Essen. Der Legende nach waren die aus Kleinasien stammenden Zwillingsbrüder Ärzte, die zur Zeit der Verfolgung durch den römischen Kaiser Diokletian (ca. 240 - 313) den Märtyrertod erlitten.
Verwaltungsleiterinnen organisieren Pfarreifusion beim Personal
Aber das ist noch Zukunftsmusik. Im Verwaltungszentrum der Pfarrei, gleich neben der St.-Joseph-Kirche in Katernberg haben die beiden Verwaltungsleiterinnen Monika Lux und Claudia Mauerhofer mit viel aktuelleren Fragen zu tun. Die ähneln in vielen Dingen den Themen, die auch Unternehmen bei einem Zusammenschluss bedenken müssen: Aus zwei getrennten Haushaltsabschlüssen entstand eine gemeinsame Eröffnungsbilanz, Mieter von Pfarrei-Immobilien mussten über neue Kontoverbindungen informiert werden – und mit den verschiedenen Berufsgruppen wie Putzkräften, Küstern, Sekretärinnen, Hausmeistern oder Kirchenmusikern standen Abstimmungen an, wie die Arbeit in der neuen Pfarreistruktur aufgeteilt wird. Natürlich hätten die Beschäftigten dabei Sorgen geäußert, „aber Widerstände gab es keine“, sagt Lux, „alle haben Interesse, die neue Pfarrei konstruktiv mitzugestalten“.
„Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut“, sagt Pfarrer Mattauch gerne – und freut sich doch, wenn die Dinge voran gehen. Dass viele Gläubige in Hll. Cosmas und Damian trotz Umbrüchen in der Pfarrei und der Kirche insgesamt nicht zu sehr am Gestern festhalten, liege vielleicht auch an der Ruhrgebiets-Mentalität, meint der Gelsenkirchener: „Hier geht es nicht darum, Probleme zu wälzen, sondern nach Lösungen zu suchen.“