von Maria Kindler

„Dialoge mit dem Bischof“: Brauchen wir eine institutionalisierte Kirche?

Welchen Einfluss die zunehmende Dynamik der Kirchenaustritte auf das katholische Selbstverständnis hat und ob Katholisch-Sein angesichts der gegenwärtigen Glaubwürdigkeitskrise und des Relevanzverlusts der Kirche neu oder anders gedacht werden muss, darüber hat Bischof Franz-Josef Overbeck in der Mülheimer Bistumsakademie Die Wolfsburg mit der Dogmatikerin Johanna Rahner, dem Religionssoziologen Detlef Pollack und der aus der Kirche ausgetretenen Katholikin und Mitbegründerin der Reformbewegung Maria 2.0, Andrea Voß-Frick, diskutiert.

Trotz aller Sünden, die die Kirche angesichts des Missbrauchsskandals zu verantworten hat, hat sich der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck dafür ausgesprochen, an der Kirche als Institution festzuhalten. Ausschlaggebend für den christlichen Glauben seien die persönliche Geschichte des Einzelnen mit Gott und zugleich die Gemeinschaftserfahrung der Getauften, wie sie in den Sakramenten der Kirche ihren Ausdruck finde, sagte der Ruhrbischof am Dienstagabend (18. Oktober) in der Bistumsakademie Die Wolfsburg in Mülheim bei einer neuen Auflage der Dialoge mit dem Bischof. Die Veranstaltungsreihe läuft unter Federführung der Wolfsburg und in Kooperation mit der BIB – Bank im Bistum Essen.

„Diese Gemeinschaftserfahrung wiederum benötigt eine Grundsubstanz von Lehre, damit wir uns nicht in der Beliebigkeit verlieren“, betonte Overbeck. Ob jemand christlichen Glaubens sei, spürten die Menschen jedoch vor allem daran, wie er oder sie die karitative Nächstenliebe lebten. Unter dem Titel "Brauchen wir eine institutionalisierte Kirche oder: Wie geht in Zukunft Christ:in-Sein?" diskutierte der Bischof von Essen mit der Tübinger Dogmatikerin Johanna Rahner, dem emeritierten Religionssoziologen der Universität Münster, Detlef Pollack, sowie mit der aus der Kirche ausgetretenen Katholikin und Mitbegründerin der Reforminitiative Maria 2.0, Andrea Voß-Frick,.

Rund 160 Interessierte verfolgten die von Akademiedozent Jens Oboth moderierte Veranstaltung im nahezu voll besetzten Auditorium, die mit einem gleichermaßen lebhaften wie kontroversen Austausch zwischen Publikum und Podium endete.

Im Hinblick darauf, wie die katholische Kirche sich weiterentwickeln müsse, verwies Overbeck auf den Kulturwandel in der postmodernen Gesellschaft und ihren Umgang mit Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit – Grundpfeiler auch für die Kirche der Zukunft. Allerdings laufe auch der Umbau des staatlichen Gemeinwesens keineswegs konfliktfrei ab: „Wenn Menschen aus dem Staat austreten könnten, täten sie das auch“, sagte Overbeck. Für jene Getauften, die zwar den rechtlichen Rahmen der Kirche verlassen haben, aber dennoch weiterhin als Menschen mit christlichen Glauben spirituell leben wollen und ihren Glauben als „therapeutisch“, ja „lebensdienlich“ erleben, gelte es neue Formen der Seelsorge zu entwickeln.

Dogmatikerin: Kirche kann kritische Zukunftsperspektive nicht umgehen

Die Dogmatikerin Rahner mahnte, dass die Kirche „eine kritische Zukunftsperspektive nicht umgehen“ könne, wenn sie sich darauf einlasse, dass die heutige Form der Institution nicht die einzige Form sei, katholisch zu bleiben: „Was passiert mit dem Glauben, wenn die Gemeinschaft zerbricht?“ Das klassische katholische Kirchenmodell einer geprägten und prägenden institutionalisierten Form von Religiosität und Glaube sei grundlegend angefragt. Die entscheidende Frage sei: „Wie viel Institution braucht es, damit Glaube möglich ist, und wie wenig Institution braucht es, damit Freiheit möglich ist?“

Die veränderte Dynamik der Kirchenaustritte der letzten Jahre bereiten Rahner große Sorgen. „Denn sie hat jetzt auch jene Teile erreicht, die wir gewöhnlich als Kernbereich unserer Gemeinden bezeichnen, also diejenigen, für die das Katholisch-Sein bisher identitätsstiftend war.“ Damit gingen aber genau diejenigen Menschen verloren, die die katholische Kirche auf die Zukunft hin so dringend benötige. „Glaube geht nur in Gemeinschaft – das sind die großen Herausforderungen.“

Die Kirche müsse sich der existenziellen Gegebenheit stellen und einen grundlegenden Perspektivenwechsel vollziehen, der die bislang geltenden rechtlichen Kategorien „drinnen“ und „draußen“ in veränderter Weise wahrnimmt, sagte Rahner.

Ausgetretene Katholikin: Gehen, um im Glauben bleiben zu können

Die Mitbegründerin der katholischen Reformbewegung Maria 2.0, Voß-Frick, erzählte von ihrem Weg in der katholischen Kirche, der sie im April 2021 den Rücken gekehrt hat. Für ein Leben im Glauben, „um katholisch zu sein“, brauche sie die Institution Kirche nicht, betonte Voß-Frick. „Ich musste gehen, um im Glauben bleiben zu können.“

Resignation, Wut, Frust, Enttäuschung, Entsetzen, Rat- und Hilflosigkeit, Empörung: Ihr Austritt aus der Kirche habe vielfältige Gründe gehabt. Zuvor habe sie bei Gesprächen mit Betroffenen über deren Missbrauchserfahrungen und die Aufdeckung systematischer Vertuschung in „tiefe Abgründe geschaut“. „Wenn ich mich auf die Institution nicht verlassen kann, muss ich meinem eigenen Glauben trauen“, sagte Voß-Frick. Diese Erfahrung habe ihren Glauben sogar geschärft.

Ihren Glauben lebt Voß-Frick nach eigener Aussage nun außerhalb der etablierten Strukturen in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und mit eigenen Formaten. „Gottesliebe und Nächstenliebe, das ist das, was für mich 'Christ:in-Sein' ausmacht“, sagte Voss-Frick.

Religionssoziologe: Stärke der katholischen Kirche ist ihr stetiger Wandel

Der Religionssoziologe Pollack betonte, dass die Institution Kirche im Laufe der Zeit schon sehr viele Transformationsprozesse durchlaufen und durchstanden habe. „Das ist die Stärke der katholischen Kirche, dass sie sehr biegsam ist“, sagte Pollack. Auch in den vergangenen Jahrzehnten habe sie sich weiterentwickelt und sei weltzugewandter und dialogischer geworden.

Doch die Pluralisierung der Lebensstile und weltanschaulicher Hintergründe führten zu einer „Verflüssigung der Glaubensformen“, durch die Religion und Frömmigkeit nicht mehr so eine wichtige Rolle in der Gestaltung des Lebens spielten. Es gebe einen deutlichen Trend, wonach Menschen aussagten, zwar an „eine höhere Macht“ zu glauben, aber nicht an „einen Gott, wie die Kirche ihn verkündigt“.

Wenn Menschen aber auch ohne Kirche gläubig sein könnten, stelle sich die Frage: „Was ist die Funktion von Kirche?“ Hier müsse die Kirche Antworten liefern, wenn etwa Menschen, denen Glaube etwas bedeute, von ihren guten Erfahrungen mit der Kirche erzählten, weil sie in Krisen oder Umbruchphasen ihres Lebens beispielsweise seelsorglich begleitet worden seien.

Die im Jahr 2012 gestartete Veranstaltungsreihe Dialoge mit dem Bischof wird am 18. April 2023 mit dem Thema „Was bringt der Synodale Weg (für das Bistum Essen)?“ in der Wolfsburg, Falkenweg 6, in Mülheim fortgesetzt.

Pressestelle Bistum Essen

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