Auf Schatzsuche zwischen Aktendeckeln
Wenn daheim das Chaos herrscht, hätten manche Menschen wohl gerne Freunde wie Severin Gawlitta und Dorothea Kreuzinger. Die beiden Archivare des Bistums Essens als Aufräumprofis zu bezeichnen, wäre ziemlich despektierlich. Andererseits sind sie in vielen Pfarreien zwischen Rhein, Ruhr und Lenne genau das: Die, die Ordnung bringen in teils viele Jahrzehnte alte Unterlagen über Kirchengrundstücke, Pfarreiangestellte, Mietwohnungen, Kindergärten oder die Predigten längst verstorbener Pfarrer. Dieses strukturierte Erfassen und Sichern von Pfarrarchiven ist nicht nur für das erst 64 Jahre junge Bistum Essen wichtig, sondern für alle, die sich für die Geschichte von Ruhrgebiet und Märkischem Sauerland interessieren. Denn „das, was in einem Pfarrarchiv ist, ist oft das einzige historische Material, was es überhaupt über einen Ort gibt“, sagt Gregor Patt von der Archivberatung, Aus- und Fortbildung des Landschaftsverbands Rheinland (LVR). Deshalb tauscht er sich nicht nur fachlich mit Kreuzinger und Gawlitta aus, sondern unterstützt die aufwendige Arbeit der Bistumsarchivare in diesem Jahr auch mit 5000 Euro aus der Archivförderung des LVR.
Bistumsarchiv ist in einer früheren Kirche untergebracht
Seit zwölf Jahren kümmert sich das Bistumsarchiv auch um die historischen Hinterlassenschaften der Pfarreien. „Bis 2010 waren die Archive dezentral untergebracht“, berichtet Archivleiterin Kreuzinger. Durch die damalige Fusion vieler kleinerer zu den aktuell 40 großen Pfarreien des Bistums und die Einrichtung des zentralen Bistumsarchivs „haben wir dann nach und nach immer mehr Pfarrarchive übernommen“. Anstatt auf Pfarrhaus-Dachböden oder in Kirchenkellern lagern die Dokumente im Bistumsarchiv wohlsortiert, auffindbar und unter klimatisch optimalen Bedingungen in einem Objekt der Bistums-Umstrukturierung: Bis zum Umbau war der Backstein-Kubus in Essen-Kray die 1964 geweihte Kirche St. Christophorus. „Wir sind dem Bistum dankbar, dass es diese Aufbewahrungsfunktion übernimmt“, sagt Patt mit Blick auf die gesellschaftliche Funktion der Kirchenakten. Zuletzt haben Kreuzinger und Gawlitta drei Pfarrarchive aus Duisburg in den Bistums-Bestand übernommen: Rund 600 Mappen in etwa 100 säurefreien Pappkartons füllen die Überlieferungen aus St. Josef, Liebfrauen und St. Franziskus.
„Wir nehmen weniger als die Hälfte mit.“
Wenn die Kartons einen Platz in den stählernen Regalen des Bistumsarchivs bekommen, ist das der Abschluss ziemlich aufwendiger Arbeiten der Archivare, die in der Regel Monate zuvor in meist wenig geordneten Verhältnissen beginnen. „Manchmal werden wir erst gerufen, wenn das Pfarrhaus schon zum Verkauf steht“, sagt Gawlitta. Dann öffnen sie Aktenschränke und Umzugskartons und nehmen sich einen Zettelstapel nach dem nächsten vor. „Die Unterlagen zu Finanz- und Rechtsthemen sind meist am besten gepflegt – aber für das Archiv tendenziell unwichtig“, erläutert Kreuzinger. Kontoauszug-Stapel etwa sind Jahrzehnte später kaum noch von Bedeutung. Spannender seien da schon Bestände, die ein historisch interessierter Pfarrer gepflegt hat, ergänzt Gawlitta – erst recht, wenn dieser vielleicht sogar selbst in einer Chronik festgehalten hat, wenn in der Pfarrei etwas Wichtiges passiert ist. Unterm Strich bedeutet das Sichten der Pfarreiunterlagen vor der Übernahme ins Bistumsarchiv aber vor allem Aussortieren: „Wir nehmen weniger als die Hälfte mit“, sagt Gawlitta und verweist nach rund 100 bereits übernommenen Pfarrarchiven auf „die dabei gewonne Erfahrung“. Dennoch rechnen Kreuzinger und er im Schnitt mit mindestens einem Arbeitstag, um ein Pfarrarchiv zu sichten.
Die weitere Arbeit vergibt das Archiv-Team an einen Dienstleister. Schließlich muss der Bestand digital erfasst, und vor der fachkundigen Verpackung „entmetallisiert“ werden: Alle Tackernadeln, Heft- oder Büroklammern werden entfernt, damit die Akten nicht durch Korrosion beschädigt werden. Dann landet das Archivgut in Mappen, die Mappen in Kartons und die Kartons – siehe oben – auf einem der stählernen Regalböden in Essen-Kray. Gerade bei der Finanzierung dieser externen Dienstleistung hilft dem Bistum die Unterstützung des LVR.
Schätze in Übergröße
Manchmal bekommen die Archivare in den Pfarreien jedoch auch wahre Schätze in die Hände, die nicht einfach in den DIN-A4-großen Mappen verschwinden: Insbesondere in den „Ur-Pfarreien“ des Ruhrbistums, die schon vor dem Jahr 1800 bestanden, gehören auch historische Urkunden zum Bestand. Einige davon lagern nun ebenfalls im Bistumsarchiv, in eigenen, flachen Schubladen. Den meisten Pfarreien sei – anders als beim Aktenordner – bewusst, wie wertvoll diese Urkunden sind. Dennoch stehe bei der Übernahme ins Bistumsarchiv manchmal eine Restaurierung an, erläutert Gawlitta. Fachlich gibt es auch dabei oft eine enge Abstimmung mit den LVR-Experten. Nach gelungenem Abschluss der Arbeiten zeigen Kreuzinger und Gawlitta diese Kunstwerke Besucherinnen und Besuchern ihres Archivs besonders gern.
Auch wenn die Zahl der Pfarreien im Bistum endlich sind: Ein Ende der Arbeit ist für Kreuzinger und Gawlitta kaum in Sicht. Trotz mehr als 100 übernommener Archive haben sie nicht einmal die Hälfte der 326 Pfarreien gesichtet, die es vor der Neustrukturierung des Bistums gab. Die Archiv-Profis werden also wohl auch in den kommenden Jahren noch in dunkle Kirchenkeller steigen oder auf staubige Dachböden klettern, um Pfarreiakten zu sichern. Dabei werden sie nicht nur für Ordnung sorgen, sondern Stück für Stück auch die Erinnerungen der Region weiter schärfen. Und wer weiß, welche weiteren Schätze noch auf ihre Entdeckung durch die beiden Archivare warten?
Kontakt zum Bistumsarchiv
Leitung des Bistumsarchiv
Dorothea Kreuzinger
Grüne Aue 2
45307 Essen
Bistumsarchiv
Dr. Severin Gawlitta
Grüne Aue 2
45307 Essen
0201/2204-574