von Thomas Rünker

Wie der Wanderstock des Bundespräsidenten ans St.-Hildegardis-Gymnasium kam

In der Kaiserzeit als Mädchenschule gegründet, bis heute am gleichen Standort präsent und an den gleichen Werten orientiert: Die wechselvolle Geschichte des Bischöflichen St.-Hildegardis-Gymnasiums in Duisburg.

Kichern, Flüstern, schräge Blicke: Lehrer Jens Nürnberger muss ein paar Spötteleien von Schülerinnen und Schülern aushalten, als er im Duisburger St.-Hildegardis-Gymnasium mitten in der großen Pause mit einem Wanderstock für Fotos posiert. Solch hölzerne Accessoires sind etwas aus der Mode geraten, zumal mit Plaketten und Stocknägeln als Ausflugs-Erinnerung. Doch der Pädagoge für Geschichte, Deutsch und Religion steht nicht mit irgendeinem Wanderstock Modell, sondern immerhin mit dem, der Bundespräsident Karl Carstens (1914 – 1992) auf zahlreichen Touren begleitet hat. Der Krückstock mit dem Hauch der Bonner Republik ist wohl das skurrilste der Exponate, die Nürnberger und andere aus 125 Jahren Schulgeschichte zusammengetragen haben und nun in Vitrinen im Schulflur präsentieren. Im Jahr 1898 wurde das heutige bischöfliche Gymnasium als katholische Mädchenschule gegründet. Grund genug, um nicht nur im September groß zur feiern, sondern die wechselvolle Geschichte der Schule von der Kaiserzeit bis heute aufzuarbeiten und im Jubiläumsjahr immer mal wieder präsent werden zu lassen.

Der Pfarrer regte die Schulgründung an

Der Pfarrer der nahen St.-Joseph-Kirche am Dellplatz habe den Anstoß gegeben, eine katholische Mädchenschule zu gründen. „Damals war es nicht üblich, dass Mädchen schulisch gebildet wurden“, sagt die heutige Schulleiterin Sabine Kretschmann-Dulisch. Ende des 19. Jahrhunderts herrschte Aufbruchstimmung in der Hafenstadt, die Industrialisierung war in vollem Gange: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es Zechen, Eisen- und Stahlhütten, seit 1890 war der Kaiserhafen in Betrieb, seit 1892 die Getreide-Börse. In diesem Boom kümmerten sich katholische Gemeinden und Orden vielerorts um die Menschen, die nicht von den Segnungen des Aufschwungs profitierten, bauten Krankenhäuser – oder eben Schulen. „Mit der Industrialisierung kamen auch viele katholische Familien nach Duisburg“, berichtet Kretschmann-Dulisch – und deren Mädchen konnten ab 1898 auf die Schule im Dellviertel gehen. „Damals war das hier noch Neubaugebiet“, erläutert Geschichts-Lehrer Nürnberger. Heute steht die Schule immer noch am gleichen Standort wie im Gründungsjahr, aber in einer dicht besiedelter City-Randlage.

Zunächst gab es nur Volksschul-Unterricht, zur weiterführenden Schule als „katholisches Oberlyceum“, wurde die Einrichtung erst in den 1920er Jahren. „1931 machten die ersten 15 Schülerinnen ihr Abitur, ein Drittel mit der Note ,gut‘“, zitiert Kretschmann-Dulisch aus der Chronik und schmunzelt: Heute markiert eine knappe 2- den Durchschnitt aller Abi-Noten in NRW. Eine der ersten Abiturientinnen: Aenne Braucksiepe (1912-1997), Mitbegründerin der CDU in Duisburg, Mitglied des ersten Deutschen Bundestags und von 1968/1969 Bundesfamilienministerin.

„Die Ordensschwestern haben zugesehen, dass die Kinder auch mal rauskommen.“

Von Beginn an gehörten Ordensschwestern zum Lehrpersonal der Schule – schon, weil es um die Jahrhundertwende kaum Lehrerinnen gegeben habe, so Kretschmann-Dulisch. Schon immer habe „ein ganzheitlicher Unterricht“ zum Schulprogramm gehört, hat Nürnberger recherchiert: Neben Lesen, Rechnen und Schreiben hätten stets auch Ausflüge, Theaterbesuche und öffentliche Feiern wie der Geburtstag des Kaisers auf der Agenda gestanden. „Die Ordensschwestern haben zugesehen, dass die Kinder auch mal rauskommen.“ Ob die Schülerinnen der ersten Jahrzehnte aus armen oder reichen Familien kamen, lässt sich heute kaum nachvollziehen. Nürnberger und Kretschmann-Dulisch vermuten eine Mischung, da Familien einerseits Schulgeld für den Besuch der privaten, ab 1908 staatlich anerkannten Schule bezahlen mussten – es andererseits aber auch Stipendien für Schülerinnen gab, die sich dies nicht leisten konnten. Immerhin legte man damals Wert auf ein einheitliches Aussehen der Schülerinnen: Zur „Corporate Identity“ der Schule gehörten Schulmützen.

Alle politischen Wirren des 20. Jahrhunderts spielten sich auch in der Schule ab: Im Ersten Weltkrieg stricken die Schülerinnen Socken für Soldaten und halfen im benachbarten Lazarett, in dem der junge Soldat Erich Remark seinen Bestseller „Im Westen nichts Neues“ schrieb. Und als während der Ruhrbesetzung ab 1923 das öffentliche Leben durch „passiven Widerstand“ lahmgelegt wurde, eröffnete auf dem Schulhof eine Feldküche - und die Kinder aus weit entlegenen Stadtteilen konnten im Ordenskonvent übernachten, weil keine Bahnen fuhren.

Bistum übernahm die Schule 1964 und errichtete sie komplett neu

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nahmen ab 1933 auch die Schwierigkeiten für katholische Schulen zu – bis die Schule 1938 als katholische Einrichtung geschlossen wurde und fortan als „Städtische Oberschule für Mädchen“ firmierte. Diese Zwangsenteignung der katholischen Schulträger wurde indes nicht gleich nach 1945 rückgängig gemacht, sondern erst nach einem viele Jahre dauernden Gerichtsverfahren. 1954 eröffnete die katholische Schule, die fortan als „St.-Hildegardis-Gymnasium“ firmierte. Die Heilige Hildegard als Schulpatronin sei eine selbstbewusste Frau gewesen, „die für ihre Rechte gekämpft hat und der die Bewahrung der Schöpfung sehr wichtig war“, verweist Nürnberger auf moderne Aspekte in der Vita der Mystikerin aus dem 12. Jahrhundert.

1964 übernahm das Bistum Essen die Schule – nur sechs Jahre nach der Bistumsgründung. Dass das Gymnasium drei Jahre später komplett neu errichtet wurde, zeigt nicht nur die baulichen Mängel der Nachkriegsjahre, sondern auch „den Wert, den gute Bildung damals schon für das noch junge Bistum hatte“, so Nürnberger. Schließlich entstand zur gleichen Zeit auch das Bischöfliche Gymnasium am Stoppenberg in Essen. Der Neubau in Duisburg – inklusive des bei vielen Schülerinnen beliebten Schwimmbads – wurde während des laufenden Schulbetriebs umgesetzt, mit der Folge, dass manche Klasse in benachbarte Wohnräume ausweichen musste. „Da gab es dann Mathe-Unterricht im Wohnzimmer“, beschreibt Kretschmann-Dulisch. Es folgten diverse Schulreformen, der Höchststand an Schülerinnen im Jahr 1981 (1110) und der Wechsel von „G9“ auf „G8“ und zurück auf „G9“. Zwischendurch wurden die ersten Jungen im ehemals reinen Mädchengymnasium aufgenommen, sie haben im vergangenen Sommer ihr Abitur gemacht.

Der Blick auf den oder die Einzelne(n)

Über all die vielen Jahrzehnte sei „die Orientierung an unseren christlichen Werten“ das Verbindende gewesen, sagt Kretschmann-Dulisch: Der Blick auf den oder die Einzelne(n), möglichst individuelle Unterstützung – „unsere Lehrerinnen und Lehrer sind ganz nah daran“, beschreibt es die Schulleiterin. Dafür sorge auch „das kleine System“ mit vergleichsweise wenigen Schülerinnen und Schülern. Von „einer besonderen Atmosphäre, einem besonderen Geist, der hier herrscht“, hätten viele Ehemalige beim Schulfest gesprochen, davon berichteten auch viele Eltern bei Anmeldegesprächen, sagt Kretschmann-Dulisch.

Zu diesem besonderen Geist gehört am St.-Hildegardis-Gymnasium auch das Engagement für andere, zum Beispiel in Form von „Charity-Walks“: Wander- oder Laufveranstaltungen, bei denen sich die Schülerinnen und Schüler pro Runde oder Kilometer für einen guten Zweck sponsern lassen. Dass diese Aktionen schon 1981 „Charity-Walks“ genannt wurden, hat Geschichtslehrer Nürnberger ebenso überrascht wie die Initiative der Schülerinnen, den Bundepräsidenten zum Mitlaufen zu animieren. Der lehnte dankend ab, schickte aber zum Trost seinen Wanderstock. Die Schulchronik verzeichnet, dass beim Spendenlauf auch ohne den Präsidenten stolze 20.000 D-Mark als Spendensumme zusammenkamen – und der Spazierstock ziert nun die Schul-Vitrine.

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