von Maria Kindler und Thomas Rünker

Warum der Kirche der Umgang mit eigener Schuld so schwer fällt

Wie die Kirche mit ihrer eigenen Schuld umgeht, ist aktuell Thema einer Fachtagung in der Bistumsakademie „Die Wolfsburg“. Einer der Referenten, der Salzburger Dogmatik-Professor Hans-Joachim Sander, beleuchtet das Thema im Interview und betont: „Die kirchliche Schuld, die nicht elementar bearbeitet wird, ist eine Gesamtblockade der kirchlich ausgerichteten christlichen Botschaft.“

Menschliche Schuld spielt in der kirchlichen Verkündigung eine zentrale Rolle. Warum sich die Kirche dennoch sehr schwer damit tut, mit eigener Schuld und der Übernahme von Verantwortung glaubwürdig umzugehen, ist derzeit Thema einer Fachtagung in der Bistums-Akademie „Die Wolfsburg“. Unter der Überschrift „Zwischen Vertuschen, Relativieren und Aufarbeiten“ diskutieren Fachleute und Interessierte noch bis zum morgigen Freitag, 16. Februar, wie Kirche mit ihrer eigenen Schuld umgeht. Einer der Referenten der Tagung, der Salzburger Dogmatik-Professor Hans-Joachim Sander, äußert sich im Interview zu zentralen Fragen des Themas.

Professor Sander, obwohl das Eingeständnis von Schuld in der eigenen Verkündigung eine zentrale Rolle spielt, tut sich die katholische Kirche oft schwer damit, eigene Schuld einzugestehen. Warum ist das Ihrer Meinung nach so? Gibt es auch theologische Gründe für diese Schwerfälligkeit?

Professor Hans-Joachim Sander: Es fällt immer schwer, Schuld einzugestehen, weil das stets ein Gegenüber hat, auf das hin Geständnis geschieht. Und diesem gegenüber steigt man dann ab, man verliert Distinktion und damit Ansehen, Einfluss und insbesondere Macht, während dieses Gegenüber all das gewinnt. Und genau deshalb war die Schuldansage in der kirchlichen Verkündigung immer so wichtig, und mit Hilfe der theologischen Begründungen dahinter traf das immer die jeweils anderen. Die sollten in sich gehen, ob sie nicht zur „Masse der Verworfenen – massa damnata“ (Augustinus) gehören, und sie sollten sich mit dieser Ansage zugleich individualisieren, also ohne Beistand mit Ausnahme der Kirche dastehen – „mea culpa – meine ganz eigene Schuld“ (Bußsakrament und Messfeier).

Kirche selbst war dagegen nicht verworfen und dem schuldigen Individuum gegenüber erhaben, auch und insbesondere dem katholisch-gläubigen Individuum gegenüber. Daher diente die Schuldtheologie traditionell stets dazu, die anderen ins Geständnis zu bringen, vor allem ins sexuelle Schuldbekenntnis, also sie absteigen zu lassen, nicht zuletzt gegenüber der huldvoll-lossprechenden Kirche.

Wenn aber die Kirche selbst schuldig geworden ist und zwar gravierend wie im Antijudaismus, durch sexuellen Missbrauch, mit Vertuschen dieser Menschenrechtsverbrechen, dann dreht sich das alles erstens um, sie steigt also denen gegenüber ab, die sie zuvor beschuldigt hat – wie die perfiden Juden, die verführerischen Opfer, die alles relativierende Moderne –, zweitens reicht die individualisierte Beschuldigung nicht mehr aus – sie kann sich selbst nicht lossprechen – und drittens rebellieren die immer beschuldigten Individuen gegen die so belegte kirchliche Heuchelei, die noch nicht einmal von der Hand zu weisen ist.

Aber Kirche will nicht absteigen, obwohl sie es unausweichlich tut. Daher fällt es ihr umso schwerer, die Tradition der Schuldtheologie als Beschuldigungstheologie zu beenden und zu brechen. Sie wäre weiter gerne identifiziert als die einzig wahre, gute, schöne Religion für alle Kulturen, als der Gottesersatz für die vor Christus abgestiegenen Juden, als eine dauerhaft und umfassend Orientierung gebende Institution in einer immer weiter alles relativierenden modernen Gesellschaft. Diese Taxonomie lässt sich leicht verlängern.

Seit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals vor allem ab dem Jahr 2010 hat es so viele Schuldeingeständnisse von Bischöfen und anderen Kirchenverantwortlichen gegeben, dass viele Betroffene ein „Ich bin erschüttert.“ oder ein „Wir haben Fehler gemacht.“ nicht mehr hören können. Dennoch wird der Kirche vorgeworfen, sich nicht ausreichend zu ihrer Schuld zu bekennen. Woran liegt das?

Sander: Diese Schuldeingeständnisse sind meistens durchaus ernst gemeint, diese Bischöfe sind wirklich erschüttert, allein schon weil sie dadurch ja tatsächlich absteigen und gravierend Macht einbüßen. Aber die Geständnisse sind, schon weil so viele davon nötig sind, Ritual geworden und betreffen – was eigentlich gut gemeint ist – immer den jeweiligen speziellen Fall. Kein deutscher Bischof entschuldigt sich für den gravierenden sexuellen Missbrauch in Italiens katholischer Kirche, wo man noch nicht einmal mit der Aufarbeitung wirklich angefangen hat. Wie sollte er auch?

Hier gilt der „mea-culpa“-Modus. Und vor dem Hintergrund dieses „mea-culpa“-Defizits gegenüber der umfassenden, globalen und bis in die intimsten Bereiche des Lebens hin angesetzten kirchlichen Beschuldigungsmacht bedeutet das jedoch, dass die bischöflichen Geständnisse nicht an die elementare Ebene heranreichen. Das spüren die Betroffenen und können es nicht mehr hören. Denn sie haben leidvoll erfahren müssen, wie elementar sie selbst durch sexuellen Missbrauch, spirituellen Missbrauch, Unverständnis so gut wie aller anderen und nicht zuletzt durch jahrzehntelange bischöfliche Vertuschungen gebrochen wurden. Sie haben Jahre, Jahrzehnte, ein ganzes Leben lang damit zu kämpfen, während sich ihre Täter einen schlanken Fuß machen konnten und die Kirche ihnen auch noch half. Die Schärfe dieses Problems lässt sich an einer fürchterlichen Bilanz erkennen. Bei Tätern, auch jetzt nach gut zehn Jahren intensiver Aufarbeitungszeit, gibt es Suizide so gut wie nicht, bei ihren Opfern dagegen ist die Zahl überaus hoch. Viele von ihnen nennen sich daher auch Überlebende.

So lange Schuldbekenntnisse von Bischöfen sowie vom Papst nicht auf diese elementare Ebene gelangen, bleiben sie leider unzureichend bis ritualisiert belanglos. Daran wird sich auch nichts ändern, sollten immer mehr sagen „Ich kann dieses leidige Thema nicht mehr hören.“. Diese Haltung wird das Problem nur verschärfen.

Wie müsste Ihrer Meinung nach ein glaubwürdiger Umgang der Kirche mit ihrer Schuld konkret aussehen?

Professor Hans-Joachim Sander

Hans-Joachim Sander ist Inhaber des Lehrstuhls für Dogmatik an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Sein Buch „Anders glauben, nicht trotzdem! Sexueller Missbrauch der katholischen Kirche und die theologischen Folgen“ ist im Mai 2021 im Grünewald-Verlag erschienen.

Sander: Glaubwürdig wird sie erst werden, wenn sie auf die elementare Ebene geht, und die ist sehr konkret. Sie tut der Kirche nämlich weh. Das bedeutet erstens, anzuerkennen, dass Kirche elementar abgestiegen ist, also in jeder Hinsicht. Auch alles, was die Kirche, ihre pastoralen und sonstigen Mitarbeiter:innen und ihre Gläubigen tatsächlich gut machen, wo sie sich um Güte mühen, Seelsorge treiben, Menschen in Not helfen, die Gottes-Ressource für alle vorhalten, sozusagen an der Verbesserung der Menschheit arbeiten, ist abgestiegen. Man sieht das daran, dass kaum mehr jemand als Priester, Pastoralreferent:in, Diakon, Gemeindereferent:in in ihr arbeiten will, und man sieht es insbesondere an der päpstlichen Verkündigung. Für Laudato si 2015 wurde Papst Franziskus überall gelobt, also die Umweltenzyklika, für sein Nachfolgeschreiben Laudate Deum 2023 interessiert sich kaum mehr jemand. Wie auch, da ist eine Religionsgemeinschaft, die der Menschheit ins Gewissen redet in Sachen Klimawandel, aber sich selbst nicht ehrlich macht mit dem, was sie auf dem Gewissen hat. Das mag man als ungerecht empfinden und als völlig verschieden, aber es ist nicht ungerecht, und es vergleicht nicht Äpfel mit Birnen. Denn das, was am meisten über eine Existenz aussagt, ist die jeweilige Schuld. Genau das hat die Kirche ja immer verkündigt und allen gesagt, ob sie es hören wollten oder nicht, und das erwischt sie nun selbst gravierend.

Die kirchliche Schuld, die nicht elementar bearbeitet wird, ist eine Gesamtblockade der kirchlich ausgerichteten christlichen Botschaft. Die Säkularisierung, die viele ja als den unaufhaltsamen Druck nach unten für die Kirchen halten, greift dem gegenüber erst zweitrangig, denn säkulare Verhältnisse sind ausgesprochen religionsfreundlich, weil sie religiöse Monopole brechen. Daran kann die Kirche nicht kapitalisieren und dort, wo sie es noch tut wie in einigen Regionen auf anderen Kontinenten, wird sie die meistens noch ausstehende Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs sehr schnell ausbremsen und ebenfalls heftig absteigen lassen. Zweitens bedeutet dieser Gang auf die elementare Ebene – und das ist nun ein komplexes Problem –, dass die üblichen Entweder-Oder-Taxierungen, also binäre Codierungen, nicht mehr greifen. Das sind Vorstellungen wie „Schuldig sind einzelne geworden. – Die katholische Kirche als solche dagegen ist unschuldig.“, „Wir wissen, was böse ist und schuldig macht. – Die anderen wissen das nicht und brauchen uns.“, „gläubig – ungläubig“, „heilvolle heilige Herrschaft, sprich Hierarchie – defizitäre Demokratie, sprich Gewaltenteilung und Parlamentarismus“, „die eine Wahrheit – die vielen Relativierungen“, „die bewährte Autorität heiligmäßiger Männer – die Klerikalphantasien geweiht werden wollender Frauen“, „die göttliche Schöpfungsordnung – die weltliche Unordnung“ usw. Davon gibt es viele. Und wir stehen erst am Anfang, sie konkret zu brechen und zu überschreiten. Aber das wird schon, wie man an den modernen Theologien sieht, die das können und von denen das katholische Lehramt nichts wissen will – was jetzt aber auch wiederum ein binärer Code war. Sie sehen, wir stehen wirklich am Anfang eines Anfangs.

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