von Maria Kindler

Mit Missbrauchstätern und Vertuschern leben – Wie geht das?

Mit Missbrauchstätern und Vertuschern leben, etwa in einem Orden, in einem Bistum, in einer Pfarrei oder in einem Stadtteil. Wie geht das? Und wie kann ein angemessener Umgang mit schuldig Gewordenen aussehen? Darüber hat der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer in der Mülheimer Bistumsakademie „Die Wolfsburg“ mit Hildegund Keul, Theologin und Leiterin des DFG-Forschungsprojekts Verwundbarkeiten, und mit Jesuitenpater Klaus Mertes, dem ehemaligen Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, diskutiert.

„Das ist eine Frage, die mich zerreißt“, sagte Pfeffer am Donnerstag (24. August 2023) zum Auftakt der Abendveranstaltung „Mit Missbrauchstätern und Vertuschern leben“ in der Bistumsakademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim. „Denn einerseits kenne ich Betroffene, habe ihnen zugehört und in Gesprächen erfahren, was ihnen angetan wurde; und andererseits habe ich auch mit Tätern zu tun, und mit Verantwortlichen vergangener Jahrzehnte – das ist für mich herausfordernd als Mensch und als Generalvikar.“ Eine Dilemmasituation, mit der auch Gemeinden und Pfarreien konfrontiert seien und die enormes Spaltungspotenzial habe. „Denn die Täter waren in der Regel hochcharismatische Persönlichkeiten, oft mit vielen Fans“, sagte Pfeffer. Die Überhöhung des Priesterberufs sei oft verbunden mit dem Ideal einer seelsorglichen „Grenzenlosigkeit“, die „höchstproblematisch und toxisch“ sei. Die im vergangenen Februar veröffentlichte Aufarbeitungsstudie (IPP) zu sexualisierter Gewalt im Bistum Essen habe gerade in den Fallstudien aufgezeigt, wie eng der Zusammenhang der systemischen Überhöhung von Priestern und sexuellem Missbrauch sei. Dies zu erkennen und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, sei eine entscheidende Aufgabe auch für die Aufarbeitung des Missbrauchs-Skandals im Ruhrbistum.

Jesuitenpater Mertes berichtete, dass die Frage nach einem angemessenen Umgang mit schuldig Gewordenen ihn täglich beschäftige, weil er in einer Gemeinschaft lebe, zu der eben auch jene gehörten. „Es bewegt mich täglich, und ich habe keine glatte Lösung“, sagte Mertes. Er halte sich an zwei Prinzipien: „Erstens: Ein Bruder bleibt ein Bruder, auch wenn er ein Täter ist; und zweitens: Man kann nicht zugleich Empathie für einen Betroffenen und einen Täter haben.“ Es gebe allerdings auch Grenzen im Zusammenleben. Würden diese erreicht, helfe ihm Distanz. „Wenn Täter sich selbst als Opfer verstehen, gibt es absolut keine Reue“, betonte Mertes.

Mertes arbeitete von 1994 bis 2011 am Berliner Canisius-Kolleg, vom Jahr 2000 an war er dessen Rektor. Als Schulleiter machte er 2010 Missbrauchsfälle öffentlich, nachdem sich mehrere ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs an ihn gewandt hatten. Dies löste in der Folge eine Debatte über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche aus und führte deutschlandweit zur Aufdeckung weiterer Fälle und zu einem Skandal.

Im Umgang mit Missbrauchstätern und Vertuschern ist für Theologin Keul entscheidend, wie ein Täter zu seiner Tat steht und ob er versucht, sie zu bagatellisieren oder zu vertuschen, oder ob er Schuld eingesteht. Die Religionswissenschaftlerin der Universität Würzburg beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit Fragen der Verwundbarkeit, der Vulnerabilität, in ihren vielfältigen Kontexten. Verwundbar seien sowohl Opfer als auch Täter, betonte Keul. Täter verwundeten, um ihre Taten zu vertuschen und um selbst nicht verwundet zu werden, was die Vulnerabilität der Opfer noch potenziere.

In einem Punkt waren sich das Podium und das Publikum der von Akademiedozent Jens Oboth moderierten Veranstaltung am Ende einig: Es gibt nur wenige Missbrauchstäter, die wirklich Reue zeigen und einsichtig sind. Viele bagatellisierten oder leugneten ihre Taten. Der Umgang mit Missbrauchstätern bleibe daher herausfordernd und schwierig und eine der großen Zukunftsaufgaben der Kirche.

Keul zitierte in diesem Zusammenhang mit Verweis auf die systemischen Strukturen, die Missbrauch begünstigten, die Theologin und Kirchenhistorikerin Regina Heyder: „Erfolg ist eine Täterstrategie.“ Der Erfolg eines Täters habe viele Jahre abgesichert, dass seine Taten nicht auffliegen. „Der Erfolg ist wurmstichig, er ist toxisch und mit dem Missbrauch verwoben.“

Doch wie ist dann mit den künstlerischen Hinterlassenschaften von Missbrauchstätern umzugehen? Kann und darf das Lied eines Missbrauchstäters noch im Gottesdienst gesungen werden? Und sollte man in einer Kirche noch vor den Kunstbildern eines Missbrauchstäters beten? Keuls Antwort war eindeutig: „Die Kunstwerke und Lieder müssen einfach aus den religiösen Räumen, aus der Öffentlichkeit weg.“ Sie könnten Betroffene erneut verletzen und sogar retraumatisieren, betonte sie. Als Beispiel nannte Keul den ehemaligen Präsidenten des Kindermissionswerks „Sternsinger“, Winfried Pilz, dessen bekanntes Lied „Laudato si“ noch immer in Gottesdiensten gesungen wird, und den Jesuiten-Pater Marko Rupnik, dessen farbenprächtige Mosaike in vielen Kirchen und Kapellen zu sehen sind.

Nach allem, was in den letzten Jahren ans Licht gekommen sei, könnten Betroffene aber mit Recht erwarten, dass die Kirche von sich aus alles „erkennbar Toxische“ aus ihren Räumen, vor allem aus den spirituellen Räumen, entferne, sagte Keul. Solange Lieder von bekannten Missbrauchstätern im Gottesdienst gesungen würden und deren Kunstwerke zu sehen seien, seien Kirchenräume keine sicheren Orte für Betroffene und damit auch nicht für die Zukunft der Kirche.

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