WIRKSAM: Lukas 10,25-37: Das Beispiel vom barmherzigen Samariter

Was Bilder aus Bildern machen - Am Beispiel der Bildgeschichte vom barmherzigen Samariter

Purpur-Codex von Rossano (Mitte 6. Jh.) und Otto Dix, Streichholzhändler I (1920)

Was Bilder aus Bildern machen

Am Beispiel der Bildgeschichte vom “barmherzigen Samariter“

Sie ist gut erzählt: Die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Da will ein kluger jüdischer Theologe Jesus in eine theoretische Diskussion verwickeln. Aber der lässt sich darauf gar nicht ein. Für Jesus kommt es nicht auf die Theorie (wörtlich: das „Zuschauen“) an, sondern auf die Praxis. Auf das, was rauskommt. Oder – um es in der Fußballersprache zu sagen: Entscheidend ist immer auffem Platz.

Und – auch das ist typisch Jesus – er argumentiert nicht, er diskutiert nicht, er erzählt eine Geschichte. Er redet „in Bildern und Gleichnissen“. Die Geschichte ist so anschaulich und einleuchtend, dass ihr „Held“, der Samariter, zum leuchtenden Vor-Bild wird und das Handeln vieler Menschen prägt. Das gilt für die Heiligen von Sankt Martin bis Mutter Teresa ebenso wie für viele „normale“ Christinnen und Christen.

Wie bringt man die Menschen vom bloßen Zuschauen zum Handeln? Oder – um gleich bei der Geschichte zu bleiben – vom Vorübergehen zum Stehenbleiben? „Sehen“ allein genügt nicht. Dreimal heißt es in der Geschichte: „Er sah...“. Zweimal folgt das ernüchternde: „... und ging vorüber.“; bis dann endlich vom Samariter erzählt wird: „... und er hatte Mitleid“.

Was macht die Geschichte, die Jesus erzählt, so überzeugend? Einmal vielleicht der Stil. Jesus erzählt ganz nüchtern, fast emotionslos. Da wird nicht die Notsituation dramatisch ausgeschmückt, der Samariter wortreich gelobt – oder sich über die vorübergehenden Gottes-Diener entrüstet. Alles wird der Fantasie und insbesondere dem Urteilsvermögen der Zuhörer überlassen.

Und dann gibt es noch eine geschickte Umkehrung der Perspektive, die häufig überlesen wird. Der Gesetzeslehrer hatte ja nach dem Objekt gefragt: Wen soll ich lieben, wer ist mein Nächster? Jesus dreht aber am Ende mit seiner Schlussfrage den Spieß um, fragt von dem her, der in Not ist: Wer wurde dem überfallenen Mann zum Nächsten? Diese Frage zielt positiv auf die Haltung: Frag nicht, wer ein „Nächster“ ist! Sei du ein Nächster! So beginnt mit dieser Erzählung eine ganz neue Geschichte. Viele neue Geschichten. Das „Bild“ wird produktiv. Füllt sich mit Leben. So soll es sein.

Ein besonderer Fall des Weiterlebens ist es, wenn Bilder zu Bildern werden. Sprach-Bilder zu Bild-Bildern. Dann sind die Bilder in besonderer Weise in ihrem Element. Und entfalten eine ungeahnte schöpferische Kraft. Die ist ständig für Überraschungen gut. Wenn Bilder neue Bilder zeugen, dann lohnt es sich, ihnen bei der Arbeit zuzuschauen.

Der Heiland und sein Engel

Es geht gleich gut los: Wir schauen auf das älteste Bild zur Geschichte Lk 10,25-37 überhaupt. Ein Ausschnitt aus einer Illustrationsseite des Purpur-Codex von Rossano, aus der Mitte des 6. Jahrhunderts. Wir fragen: Was macht das Bild aus seinem Vor-Bild? Welche Strategien verfolgt es? Was sollen wir von der Geschichte zu sehen bekommen? Und wie? Was drückt uns das Bild aufs Auge?

Fangen wir unten an. Ganz unten. Das Opfer des räuberischen Überfalls liegt lang hingestreckt auf dem unteren Bildrand. Elend, nackt und bloß. „Halbtod“ wie der Text sagt. Das wird noch unterstrichen durch die fahle Hautfarbe, die deutlich vom Purpurgrund, aber auch von Gold, Weiß und Blau absticht. Wir halten fest: So drastisch es frühbyzantinischer Malerei möglich ist, wird uns die Elendssituation des Menschen gezeigt. Das ist keine überraschende Bildstrategie. Auf den Einfall wäre ich zur Not auch gekommen, wenn ich die Geschichte vom barmherzigen Samariter zu illustrieren hätte. Aber es ist bis heute wohl kein schlechter Weg: Mitleid zu wecken, um die Menschen zum Handeln zu bewegen.

Aber alles andere im Bild ist ungewöhnlich. Zuerst: Der Samariter ist Christus. Tief gebeugt steht er da und streckt sich dem armen Kerl entgegen. Ein „Verstoß“, eine Erweiterung gegenüber dem Text, die der Maler – oder sein kluger Berater – nicht neu erfinden musste, sondern schon in der Auslegung der Kirchenväter vorfand. Zwei Deutungsmöglichkeiten verbinden sich mit dieser Bildidee. Die eine hat mit der ursprünglichen Geschichte so gut wie nichts zu tun, ist aber trotzdem schön. Sie lädt uns ein, in dem armen Menschen uns selbst zu sehen. Wir sind des Heils an Leib und Seele bedürftig, und Jesus, der Heiland, will uns dieses Heil schenken. Wir sollten es annehmen.

Die andere Deutung: Wenn die beispielhafte Gestalt des barmherzigen Samariters durch Christus dargestellt wird, dann wird die tätige Nächstenliebe als Teil und als wesentlicher Ausdruck der Nachfolge Christi anschaulich gemacht. Und Jesus wird zum prägenden Vorbild. „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt“, sagt er bei der Fußwaschung (Joh 13,15); und nicht umsonst stellt ihn unser Purpurcodex im dazugehörigen Bild mit genau demselben gekrümmten Rücken bei gestreckten Beinen dar. Der „krumme Rücken“: Er kann zu einem ganz eigenständigen Bild werden, das über die Situation hinausweist. Wenn man es theologisch formulieren will: Zu einer christologischen Wesensaussage. Metapher der „Pro-Existenz“ Jesu und seiner „Erniedrigung“ (im Sinne von Phil 2,6-10).

Ein paar Überlegungen sollten wir auch noch dem Engel rechts im Bild widmen. Auch hier hat das Bild ein neues Bild produziert. Ein Engel taucht nun mal gar nicht in der Geschichte auf. Was hat er – oder sie, so genau kann man das bei der Gattung „Engel“ nie wissen – dann hier zu suchen? Und zu sagen? Er steht Christus gegenüber, beugt sich wie er über den Verletzten und sorgt so anschaulich dafür, dass wir uns um den Armen nun wirklich keine Sorgen mehr machen müssen: Er ist vollständig von Fürsorge zugedeckt. Der Engel hält mit verhüllten Händen eine goldene Schale hin. Das erinnert stark an liturgische Handlungen und Haltungen. So zeigt uns der Engel nicht nur, dass Helfen „himmlisch“ ist. Sondern eine beliebte Antinomie, ein Schein-Gegensatz, wird hier aufgelöst: der von Gottesdienst und Nächstenliebe. Liturgie und Diakonie wollen hier zusammengesehen werden, und ich überlasse es dem geneigten Leser/der Leserin, diesen schönen und wichtigen Gedanken weiterzuentfalten.

Das tut weh!

Wir machen einen Riesensprung – in die sogenannte „klassische“ Moderne. Aber von Klassik ist beim Streichholzhändler I des Malers Otto Dix wenig zu spüren. 1920 ist das Bild entstanden. Otto Dix ist 28 Jahre alt und hat vier Jahre seines jungen Lebens in einem grauenvollen Krieg an vorderster Front ver-lebt. Da kann man schon mal böse werden. Und der „frühe Dix“ ist furchtbar böse; auf eine Gesellschaft, die sich wieder einzurichten sucht. Und auf die Menschen, die Elend und Not und die schrecklichen Folgen des Krieges nicht wahrhaben wollen.

Sein Bild zeigt eines der Opfer, eines von vielen. Ein blinder Krüppel. Verstümmelt, hilflos und kaum noch lebensfähig. Links von der Bildmitte hockt - oder sagt man : sitzt? - der Streichholzhändler auf einem schräg das Bild durchschneidenden Bürgersteig mit rautenförmiger Pflasterung. Horizontale und vertikale Linien gibt es kaum; der Bildraum suggeriert Haltlosigkeit, Abwesenheit von Perspektive, Leben am Abgrund. Die Mütze zeigt: der Mann war Matrose, ein Opfer der wahnwitzigen Marinepolitik Wilhelms II. Arme und Beine sind amputiert, die Beinstümpfe stecken in primitiven Prothesen, eine abgerissene Jacke mit flatternden Ärmeln verbirgt die Armenden. Mit einigen grotesken Details unterstreicht Dix, dass der Mann zur völligen Bewegungslosigkeit verurteilt ist: ein Dackel bepisst den Prothesenstumpen, zwischen der Jacke und der Hauswand hat eine Spinne ihr Netz gespannt. Zudem ist der Krüppel noch blind; dafür ist das Ohr wie der ganze Kopf überdimensioniert. Ein Stoppelbart betont die Verwahrlosung - wie sollte sich der arme Kerl auch rasieren? Die tiefen Falten könnten vermuten lassen, dass der Streichholzhändler schon alt ist, aber die blonden Haare, Augenbrauen und der Schnäuzer sagen deutlich das Gegenteil.

Wir wollen uns nicht weiter in den Anblick dieses „Häufchen Elends“ vertiefen. Es gibt im Bild ja auch Menschen, denen es prima geht. Passanten hasten an dem Krüppel vorbei. Wohlsituierte Bürger: exakte Bügelfalte, weiße Gamaschen, polierte Lackschuhe, feiste Waden unter einem Spitzenunterrock. Auch sie sind - auf andere Weise - "blind"; sie „sehen“ und „gehen vorbei“. Womit wir wieder bei der Erzählung vom „barmherzigen Samariter“ wären. Ich halte es für naheliegend, dass Dix auf die biblische Geschichte anspielen will. Und diese „Anspielung“ ist ein wichtiger Teil seiner moralpädagogischen Strategie. Er appelliert gezielt an das „christliche“ Gewissen. Zu dessen „Wissen“ ein „Bild“ aus einer Gleichniserzählung gehört: Das Bild der Vorübergehenden. Und die Mahnung Jesu: Es geht auch anders! Mach’s wie der Samariter! Lass dich aufhalten!

Diese Deutung der Bildstrategie des Malers lässt sich noch durch eine zweite Beobachtung stützen. Ganz pointiert hat Dix den lebendigen Torso des „Streichholzhändlers“ vor das Rahmen-Kreuz einer Haustür gesetzt und so noch einmal das christliche Bild-Gedächtnis ins Spiel gebracht. Er setzt den Krüppel dem gekreuzigten Christus gleich. Eine Gleichsetzung, die Christus selbst im Weltgerichtsgleichnis veranlasst hat: „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan“ (Mt 25,45).

Zwei Bilder – eine Geschichte. Sechstes Jahrhundert und zwanzigstes Jahrhundert. Sie füllen das Vor-Bild mit Leben. Mit unterschiedlichen moralpädagogischen Strategien lenken sie das Sehen auf unterschiedliche Weise. Bringen überraschende Aspekte – „Ansichten“ – ins Spiel. In der Hoffnung, dass sie sich in „Einsichten“ verwandeln, die aus Zuschauern Akteure werden lassen.

Herbert Fendrich

Pressestelle Bistum Essen

Zwölfling 16
45127 Essen