von Cordula Spangenberg

Assistierter Suizid: „Das Urteil war ein Paukenschlag“

Rat für Gesundheit und Medizinethik im Bistum Essen ringt um die katholische Position in anspruchsvollen Fragen zu Lebensschutz und Autonomie

Einem sterbewilligen Menschen die Giftspritze zu setzen – das wird auch künftig in Deutschland verboten bleiben. Jedoch tödlich wirkende Mittel bereitzustellen, die der Sterbewillige dann selbst einnehmen muss: Das wird demnächst möglich sein. So hat das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 entschieden, als es das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe für rechtswidrig erklärte. Nun müssen neue Gesetze erlassen werden, die Juristen, Ärzte, Politiker, Ethiker und nicht zuletzt die Kirchen vor riesige Herausforderungen stellen. Was ist wichtiger: Die Autonomie über sich selbst oder der Schutz des zerbrechlichen Lebens?

Auch der Rat für Gesundheit und Medizinethik im Bistum Essendiskutiert diese schwierigen und anspruchsvollen Fragen kontrovers, sagte dessen Sprecher Dirk Albrecht am Montag, 31. Mai 2021 in der katholischen Akademie „Die Wolfsburg“. Eindeutige Antworten gab es bei der Jahresveranstaltung des Rates, der Bischof Franz-Josef Overbeck berät, zwar noch nicht, aber der Rahmen für die Positionierung wurde an diesem von Akademiedozent Mark Radtke moderierten Abend etwas klarer abgesteckt.

Palliativmediziner Gockel: Es gibt keinen Grund, Tötung auf Verlangen zuzulassen

Wie der Sterbewunsch im Alltag aussieht, berichtete der Palliativmediziner Matthias Gockel aus Berlin. Der alte Herzpatient, der seine Medikamentenpackung in einem Zuge leert; die gelähmte Dialyse-Patientin, die weitere Blutwäschen ablehnt im Wissen, dass ihr Leben dann rasch ein Ende findet – diese Formen der Selbsttötung würden nicht von der Statistik erfasst. Oft gehe es beim Sterbewunsch aber vor allem darum, Symptome zu lindern. Luftnot, Panik, Schmerzen, Juckreiz: Gockel hat manche Krankheitsverläufe erlebt, die ihn den Suizidwunsch verstehen lassen. Auch wenn der Hilfe zur Selbsttötung nun gesetzlich der Weg geebnet wird: Den weiteren Schritt zur aktiven Sterbehilfe schließt Gockel aus: „Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund dafür, Tötung auf Verlangen zuzulassen.“ Auch wer sich nicht mehr regen könne, schaffe es noch, mit den Augen einen Computer zu bedienen, um eine Infusion zu starten: „Wer selbst das nicht mehr kann, kann vermutlich auch keinen freien Willen mehr bilden.“ 

Richterin Rissing-van Saan: Im Urteil geht es um eigenhändige Selbsttötung

Aus juristischer Perspektive sei das Urteil des Bundesverfassungsgerichts „ein Paukenschlag“ gewesen, urteilt Ruth Rissing-van Saan, ehemals Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof. „Alle Welt ist davon ausgegangen, dass man mit einer verfassungskonformen Auslegung zurechtkäme“, sagte die Richterin, die sich mit Entscheidungen rund um die Palliativmedizin einen Namen gemacht hat. Für Rissing-van Saan trägt zur Problemlösung bei, wenn man zunächst die rechtliche Lage klärt: „Was verstehen Sie eigentlich unter Suizid?“ Der Behandlungsabbruch einer Chemotherapie oder Dialyse, der vormals „passive Sterbehilfe“ hieß, werde im verfassungsgerichtlichen Urteil klar vom Suizid unterschieden. Suizid sei auch nicht die palliative Schmerzbehandlung, die den vorzeitigen Eintritt des Todes in Kauf nehme, ebenfalls nicht der freiwillige Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung. „Setz mir die Spritze“ dagegen sei „Tötung auf Verlangen“ und nach wie vor nicht erlaubt: „Suizid ist vor dem Gesetz die eigenhändige Selbsttötung. Darum geht es in der neuen Rechtslage.“

Moraltheologe Sautermeister: Kirchen müssen sich an der Kompromissfindung beteiligen

Für den Bonner Professor für Moraltheologie Jochen Sautermeister ist ausschlaggebend, das Rechtsprinzip „Autonomie“ von der Autonomie als Selbstbestimmung zu unterscheiden: „Wie lässt sich wirklich feststellen, dass es ein freier, beständiger, verantwortlicher Wille ist? Denn der Wille ist oft Ausdruck für etwas anderes: Dem Schmerz zu entkommen, nicht zur Last fallen zu wollen.“ Um sozialen Druck zu vermeiden, befürwortet der Moraltheologe die Schaffung eines Suizidpräventionsgesetzes. Außerdem sieht er die Kirchen – trotz ihres klaren Bekenntnisses zum Lebensschutz – in der Pflicht, sich an der Kompromissfindung zu beteiligen: „Man muss es nicht gutheißen. Aber kann man verantworten, sich zu entziehen?“

CDU-Politiker Gröhe: Wir brauchen viel mehr Suizidprävention

Wie wird nun die Politik mit der neuen Rechtslage umgehen? Hermann Gröhe, der als Bundesgesundheitsminister im Jahr 2015 das nun gekippte Gesetz auf den Weg gebracht hatte, sagt: „Ich respektiere das Urteil, aber ich bedauere es. Wir wollen keine Gewöhnung an Suizidassistenz als Behandlungsvariante.“ Sein Vorschlag gleicht dem des Moraltheologen Sautermeister „denn meist geht es beim Sterbewunsch eben nicht um Palliativ-Situationen, sondern um Lebenskrisen, Beziehungskonflikte, Arbeitslosigkeit oder Schulden“. Deshalb fordert Gröhe, heute stellvertretender Vorsitzender der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, viel mehr Prävention vor allem auch für junge Menschen, mehr Beratungsmöglichkeiten, mehr Streetworker und Bahnhofsmissionen an gefährdenden Orten: Dass man auf dem richtigen Weg sei, zeige die verbesserte Krisenintervention der Psychiatrie, die Möglichkeiten der Behandlung von Depressionen und die sinkende Zahl der registrierten Suizidfälle. Gröhe möchte sich bei der nun anstehenden Neufassung der Gesetze an den Regeln zum Schwangerschaftsabbruch orientieren, die Fristen und Beratungspflichten einschließen: Das Gesetz solle weiterhin geschäftsmäßige Sterbehilfe verbieten, in bestimmten Fällen aber Straffreiheit sichern und – darüber hinausgehend – die Rechtswidrigkeit fallen lassen.

Bischof Overbeck: Als Staatsbürger gehe ich mit dem Gesetz um, als Kirche bleibe ich kritisch

Welche Fragen müssen als nächstes beantwortet werden? Bischof Franz-Josef Overbeck als kritischer Zuhörer des Diskussionsabends gab zu bedenken, dass das Bundesverfassungsgericht der Selbstbestimmung des Menschen und seiner Entscheidungsfreiheit einen Rang unterstelle, der nach Ansicht vieler Christen nicht den Realitäten entspreche. Deshalb könne er als Staatsbürger zwar mit dem Gesetz umgehen, „aber als Kirche bleibe ich da kritisch“, sage Overbeck. Die Kirche zeige in der Seelsorge, in ihrer Beteiligung am öffentlichen Diskurs und in ihrer sozialen Arbeit, dass Freiheit auch bedeuten könne, sich zum Leben zu entscheiden. Außerdem plädierte der Bischof dafür, im Gesetzgebungsverfahren die Ärzte vor einer Beteiligung an Tötungen auf Verlangen oder assistiertem Suizid zu schützen.

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