von Thomas Rünker

„Wir wollen im Bistum Essen jetzt und in Zukunft lebendig Kirche sein“

Mit den Zukunftsbild-Projekten und Pfarreientwicklungsprozessen, den Konsequenzen aus der Missbrauchsstudie und vielen anderen Initiativen entwickelt sich das Bistum Essen hin zu einer modernen Kirche, sagt Markus Etscheid-Stams. Ein Interview mit dem Leiter des Stabsbereichs Strategie und Entwicklung im Ruhrbistum.

Das Ruhrbistum ist mächtig in Bewegung: Die Zukunftsbild-Projekte, die Pfarreientwicklungsprozesse, viele Gespräche über die künftige Rolle der hauptberuflichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die Konsequenzen aus der Missbrauchsstudie … „All diese Entwicklungen haben ein gemeinsames Ziel“, erklärt Markus Etscheid-Stams, Leiter des Stabsbereichs Strategie und Entwicklung im Bistum Essen, „wir wollen im Bistum Essen jetzt und in Zukunft lebendig Kirche sein“. Im Interview erläutert der 39-jährige Theologe und Kirchenentwickler, wie das Ruhrbistum innovative Angebote und zukunftsfähige Strukturen entwickelt, um Menschen für die frohe Botschaft des christlichen Glaubens zu begeistern.

Bistum Essen: Herr Etscheid-Stams, bei den Zukunftsbild-Projekten listet das Bistum Essen „Segensfeiern für Neugeborene“ neben einem „Trauteam“ und „ehrenamtlichen Beerdigungs-Leitern“ auf. Wo ist die Verbindung zwischen diesen so unterschiedlichen Themen?

Markus Etscheid-Stams: Unsere Region und das Leben der Menschen hier verändern sich radikal. Anders als früher sind die wenigsten Menschen im Ruhrgebiet heute in Bergbau oder Stahlindustrie tätig – und sie sind auch nicht mehr „automatisch“ katholisch oder eng an ihren Wohnort gebunden. Will Kirche heute und künftig ihrem Auftrag gerecht werden, muss sie sich selbst verändern. Dazu gehört, dass Menschen sich heute aktiv für unseren Glauben entscheiden und für eine von vielen Formen, ihn zu leben. Auf diese Vielfalt von Zugehörigkeit und Spiritualität antworten wir als Bistum – zum Beispiel mit den Zukunftsbild-Projekten: Mit den Segensfeiern für Neugeborene machen wir – vor und neben der Taufe – Gottes Nähe für junge Familien erfahrbar, wir begleiten und unterstützen Menschen am Tag ihrer Hochzeit intensiv und individuell, und wir bilden Ehrenamtliche für den Beerdigungsdienst aus. So wollen wir in besonders intensiven und existentiellen Momenten des Lebens sehr persönlich, professionell und mit hoher Qualität für die Menschen erreichbar sein. Diese drei Beispiele machen aber auch deutlich, dass sich das Miteinander von Hauptberuflichen und Ehrenamtlichen, der Anspruch an die liturgischen Angebote der Kirche oder die Bedeutung von Pfarreien und Gemeinden für viele Katholikinnen und Katholiken im Bistum Essen sehr verändern. Auf diese Veränderungen reagieren wir mit unterschiedlichen Aufbrüchen.

Bistum Essen: Gerade bei den Pfarreientwicklungsprozessen (PEP) haben viele Gläubige die Sorge, dass durch Sparzwänge das katholische Leben vor Ort in Gefahr ist.

Markus Etscheid-Stams: Diese Sorge kenne ich auch. Aber wir müssen ehrlich sein: Gut 60 Jahre nach der Entstehung unseres Bistums ist die Zahl der Katholikinnen und Katholiken auf rund die Hälfte gesunken. Notwendigerweise bedeutet Pfarreientwicklung deshalb auch, dass wir kleiner werden. Unsere Pfarreien kommen nicht darum herum, Kirchen und andere Immobilien aufzugeben. Gleichzeitig geht es beim „PEP“ vor allem darum, das katholische Leben weiter zu entwickeln. Die Pfarreien können an den verschiedenen Orten Schwerpunkte setzen, so entstehen neue Initiativen – wie die Kinderkirche in Bottrop, das Kirchenmobil in Bochum, verschiedene neue sozialpastorale Angebote oder die vielen ökumenischen Projekte, mit denen sich Katholikinnen und Katholiken vor Ort auf den Weg zu einer neuen, zukunftsfähigen Kirche machen. Für Hauptberufliche bedeutet dies oft eine stärkere Spezialisierung, die die Kompetenzen der einzelnen ernst nimmt. Und was mich besonders fasziniert, ist das vielfältige freiwillige Engagement. Das geschieht oft – zum Beispiel bei den ehrenamtlichen Gemeindeleitungen – aus dem richtigen Bewusstsein heraus, dass jeder Christ durch Taufe und Firmung selbst die Kirche gestalten darf. Orientierung bei all diesen Aufbrüchen ist dabei immer unser Zukunftsbild, das unter der Überschrift „Du bewegst Kirche“ in sieben Worten beschreibt, wie wir Kirche sein möchten: berührt, wach, vielfältig, lernend, gesendet, wirksam und nah.

Bistum Essen: Das Zukunftsbild war Ergebnis des 2013 abgeschlossenen Dialogprozesses. Ist nach mehr als sechs Jahren nicht mal langsam Schluss mit Zukunft?

Markus Etscheid-Stams: „Die alte Zeit ist zu Ende!“, hat unser Bischof Franz-Josef Overbeck in seinem Wort zum Jahresanfang 2019 geschrieben. Er fasst damit zusammen, was viele in der Kirche spüren und beobachten: Ein „Zurück“ gibt es nicht. Für uns bricht eine neue Form des „Kirche-Seins“ an. Das Zukunftsbild liefert Kriterien für diese Perspektive. Und um diese zu gestalten, gibt es in unserem Bistum viele Projekte und Prozesse der Kirchenentwicklung. Ein „Schluss mit Zukunft“ kann ich nach dem Dialogprozess und mit den Zukunftsbild-Projekten, der Pfarreientwicklung oder dem Gesprächsprozess der pastoralen Berufsgruppen nicht erkennen. Ganz im Gegenteil: Viele Katholikinnen und Katholiken melden uns zurück, wie gut es ihnen tut, dass sich in ihrer Kirche endlich so viel bewegt. Das ist die große Chance: Gute Ideen brauchen oft ihre Zeit und den richtigen Zeitpunkt. Der scheint mir für vieles gekommen: Die Themen Macht, Weiheamt, Geschlechtergerechtigkeit und Sexualität, die bei uns als Konsequenz aus der Missbrauchsstudie und im Synodalen Weg auf Bundesebene beraten werden, werden zu Antworten führen. Und das ist gut so und großteils überfällig. Insofern ist nicht „Schluss mit Zukunft“, sondern wir werden in den nächsten Jahren noch sehr viel Neues erleben.

Bistum Essen: Wie sieht dann Ihre Perspektive für die kommenden Jahre aus?

Markus Etscheid-Stams: Ich bin froh und auch stolz, dass unser Bistum im bundesweiten Vergleich oft als sehr lebendig, mutig und innovativ wahrgenommen wird. Im Bistum Essen probieren wir vieles einfach aus – und lernen dann aus Prototypen und Experimenten, was wir weiter entwickeln. Das ist anstrengend, weil wir dabei Unklarheiten und Unsicherheiten aushalten müssen. Wir müssen bereit sein, Fehler zu machen. Klar ist also, frei nach Heraklit: „Die einzige Konstante in der Kirche ist die Veränderung.“ Ich glaube aber fest an die Kraft der Botschaft Jesu, die besonders in den Hoch- und Tiefpunkten des Lebens erfahrbar wird. Dafür braucht es in der Kirche weiterhin viele gute Ideen und eine Vielfalt an Professionen und Personen, die groß denken und mutig nächste Schritte gehen. Das wird in einem guten Sinne für mehr Qualität und „Dienstleistung“ sorgen. Und dann werden wir – unter anderem als Konsequenz aus der Missbrauchs-Studie – auch weitere Strukturen verändern. Das wird ebenfalls sehr greifbar machen: Kirche wird anders und neu. Eine spannende Herausforderung, vor der mir angesichts der Innovationskraft unseres Bistums aber nicht bange ist.

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