von Thomas Rünker

„Wir brauchen Initiativen gegen Einsamkeit und Isolation“

In einer aktuellen Stellungnahme ruft der Rat für Wirtschaft und Soziales des Bischofs von Essen an Aschermittwoch zu mehr Solidarität in der Gesellschaft auf – während der Corona-Krise, aber auch für die Zeit nach der Pandemie. Im Interview erläutert der Sprecher des Rates, Peter Güllmann, Vorstandssprecher der Bank im Bistum Essen, die zentralen Aspekte.

Mit der Forderung nach mehr Solidarität in der Gesellschaft meldet sich am Aschermittwoch der Rat für Wirtschaft und Soziales des Bischofs von Essen in einer „Stellungnahme zu den ökonomischen und sozialen Herausforderungen während und nach der Corona-Krise“ zu Wort. Gut ein Jahr nach Beginn der Pandemie analysieren die Wirtschafts-Fachleute in dem Beratergremium des Ruhrbischofs die zentralen Folgen der Krise und fordern vor allem für die besonders akut betroffenen Bevölkerungsgruppen sofortige Hilfen – und Perspektiven für die Zeit nach der Pandemie.

Im Interview geht Peter Güllmann, Sprecher des Rates für Wirtschaft und Soziales und Vorstandssprecher der Bank im Bistum Essen, auf zentrale Aspekte der Stellungnahme ein:

„Soziale Nähe in Zeiten des Abstandes“ ist der Titel der aktuellen Stellungnahme des Rates für Wirtschaft und Soziales im Bistum Essen. Was zeichnet für Sie diese Form der Nähe aus?

Peter Güllmann: Dieser Titel bringt die Herausforderung in diesen Tagen auf den Punkt: Wir brauchen jetzt eine große Anstrengung, damit soziale Beziehungen nicht durch Abstandsregeln zerstört werden. Und wir brauchen Initiativen gegen Einsamkeit und Isolation – den achtsamen Blick auf den Nächsten. Mir macht zurzeit große Sorge, dass die politische und virologische Perspektive oft einseitig das Abstandsgebot betont und soziale Folgen dieser Distanzierung aus dem Blick zu geraten drohen.

Was ist Ihre größte Sorge, wenn Sie auf die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie schauen?

Güllmann: Meine größte Sorge sind die Perspektiven der jungen Generation. Es ist in den letzten Monaten versäumt worden, die Schulen ausreichend auf Distanzunterreicht vorzubereiten. Wir erleben jetzt, dass ein tragendes Konzept fehlt. Darüber hinaus wird die physische Distanzierung, die oftmals auch eine soziale ist, deutliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Gemeinschaftssinns haben. Die zweite große Sorge gilt den Soloselbständigen und der Kreativwirtschaft, die gerade im Ruhrgebiet besonders stark ist, und den Unternehmen und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die die Krise vielleicht nicht überstehen. Das Mindeste hierbei ist doch, dass die angekündigten Hilfen auch ankommen. Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt! Schaffen wir das nicht, geht viel mehr kaputt als nur ein einzelnes Unternehmen.

Ihre Stellungnahme ist ein dezidierter Aufruf zu mehr Solidarität in der Krise – und für die Zeit danach. Wo sehen Sie die Solidarität besonders in Gefahr?

Güllmann: Mit dem Zurückdrängen der Pandemie sind die entstandenen Schäden ja nicht beseitigt. Vielmehr bedarf es einer starken solidarischen Bewegung, die die Zerstörungen und Verwüstungen im sozialen und im wirtschaftlichen Bereich auffängt. Im ökonomischen Sinn bedeutet dies, dass sich die Starken mehr beteiligen müssen als diejenigen, die wenig haben. Und im sozialen Bereich wird es darauf ankommen, Beziehungen zu reparieren und auszubauen. Als Gesellschaft müssen wir gemeinsam die Solidarität mit den Schwachen in den Mittelpunkt stellen. Es wird übrigens auch zukünftig die große Aufgabe der Kirchen sein, hierzu das Bewusstsein zu schärfen und Angebote zu formulieren.

Sozialpolitik am Aschermittwoch

Dass sich das Ruhrbistum zum Beginn der Fastenzeit mit einem sozialpolitischen Statement zu Wort meldet, hat Tradition: Seit 1998 lädt das Bistum gemeinsam mit der Evangelischen Kirche im Rheinland jährlich zum gemeinsamen Sozialpolitischen Aschermittwoch ein, um als Kontrast zu den traditionellen Partei-Veranstaltungen Akzente aus christlicher Perspektive zu setzen. Coronabedingt musste die Veranstaltung in diesem Jahr ausfallen – dass sozialpolitische Fragen jedoch gerade in der Corona-Krise besonders relevant werden, verdeutlicht die Stellungnahme des Bischöflichen Rates.

Wie können die Mitmenschen, aber auch die großen gesellschaftlichen Partner in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu einem noch stärkeren solidarischen Handeln motiviert werden?

Güllmann: Viele Menschen haben sich in der Krise in bewundernswerter Weise engagiert. Dieses Engagement aufrechtzuerhalten und Menschen weiter zu mobilisieren, sich für eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft einzusetzen, das muss unser Ziel sein. Dies gilt im Großen wie auch im Kleinen und daher muss jeder Einzelne, jede Institution oder Vereinigung und jedes Unternehmen seine Grundsätze dahingehend überprüfen. Allein mit Appellen wird es in der Größenordnung, die wir zu bewältigen haben, aber nicht gehen. Also gilt es, über politische Programme nachzudenken, die – gegebenenfalls mit Solidarabgaben – zu einer gerechteren Verteilung und zur Rettung ganzer Branchen führen oder mit Förderprogrammen neue Unternehmensmodelle fördern.

Die Stellungnahme "Soziale Nähe in Zeiten des Abstandes" im Wortlaut

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