von Thomas Rünker

Wiederaufbau: Als die Bauleute am Dom erst noch die Pferde füttern mussten

Bei Kriegsende vor 75 Jahren lag die Essener Münsterkirche in Schutt und Asche. Doch schon bald begann der Wiederaufbau – anfangs mit teils abenteuerlicher Improvisationskunst. Erst bei der Messe zur Bistumsgründung am 1. Januar 1958 konnte wieder die komplette Kirche genutzt werden.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren war auch die „Stunde Null“ für den Wiederaufbau des durch massive Luftangriffe schwer beschädigten Essener Doms. „Alle Dächer waren teils durch den Luftdruck der Sprengbomben, teils durch Brände zerstört, und Wind und Regen konnten das Zerstörungswerk, nachdem die Bomben das ihrige getan hatten, fortsetzen“, erinnert sich der mit dem Wiederaufbau beauftragte Regierungsbaumeister Emil Jung dreieinhalb Jahre später in der Zeitschrift „Das Münster am Hellweg“. „Im Schiff der Münster- und Johanneskirche türmt meterhoch der Schutt der eingestürzten Kreuzgewölbe, vermischt mit verkohlten Resten der schweren eichenen Dachstühle.“ Durch die geborstenen Fenster des Ostchores haben die ersten Bauleute zwischen den rund 650 Jahre alten Säulen des gotischen Kirchenschiffs freie Sicht auf die große Synagoge, die 1938 von den Nationalsozialisten schwer beschädigt worden war – und in den offenen Himmel über sich. Architekt Jung gesteht: „Zunächst stand der mit der Rettung des Münsters beauftragte Baumeister ratlos vor dem Wirrwarr des Zerstörungswerks.“

Viel Improvisation und Spendenbereitschaft

Neben der Baukunst Jungs war es vor allem der von vielen Essenern – längst nicht nur Katholiken – getragene Wunsch, verbunden mit großherzigen Spenden, dass der Wiederaufbau des Doms trotz der massiven Zerstörungen und der schwierigen gesellschaftlichen Umstände schon bald angegangen wurde. Wenige Monate nach Kriegsende sammelten sich Essener Bürger, um den Wiederaufbau zu organisieren. Im September 1946 rief dann der damalige – kommunistische –Oberbürgermeister Heinz Renner nach einem einstimmigen Ratsbeschluss die Essener Bevölkerung zur Bildung eines überkonfessionellen Vereins zum Wiederaufbau der Münsterkirche auf. Ein Jahr später wurde der bis heute bestehende Münsterbauverein gegründet.

Seit 1948 ist „Das Münster am Hellweg“ die Zeitschrift des Vereins, die über aktuelle Vorhaben am Dom und seine reichhaltige Geschichte berichtet. Die begann im 9. Jahrhundert als Kirche für das Frauenstift, das fast 1000 Jahre lang die religiöse und politische Geschichte Essens geprägt hat. Dank Jungs regelmäßiger Berichte lesen sich die ersten Ausgaben, die heute im Archiv der Domschatzkammer eingesehen werden können, wie eine Wiederaufbau-Chronik, in der der Baumeister lebendig von den vielfältigen Herausforderungen schreibt, die neben dem Architektenwissen vor allem viele Improvisationen erforderten. So beschreibt Jung von den Bemühungen, zunächst ein Not-Dach über Kirchenschiff und Chor zu errichten und den Bau so vor weiterer Zerstörung zu schützen. Eine Holz-Zuteilung wurde ihm von der Britischen „Militärregierung verweigert mit dem Hinweis, dass Essen als ‚city of steel‘ sich mit Eisen helfen müsse“. Zumindest für Sparren und Holzschalung stellte dem Dom dann „ein großherziger Spender“ aus seinem privaten Waldbestand Holz zur Verfügung. „Nun mussten die gefällten Bäume von Pferden, die vorher von der Münsterbauhütte mit mühsam beschafftem Hafer zu Kräften gebracht worden waren, aus dem Wald gezogen werden an die Landstraße“, beschreibt Jung. „Für den Trecker zum Sägewerk musste wiederum der Betriebsstoff herbei gezaubert werden, und als endlich die erkämpften Baumstämme im Sägewerk eintrafen, da fehlte die Einschnittgenehmigung der Militärregierung, die die Zuteilung von Holz für den Wiederaufbau des Münsters versagt hatte.“ Dennoch gelang es Jung schon bald, über den Dom-Ruinen wieder ein Dach zu errichten.

Architekt Emil Jung baute auch das Bischofshaus

Die Kirche wieder aufzubauen war zweifellos ein mühsames Unterfangen, zumal es Jung gerade zu Beginn auch an Arbeitskräften mangelte. Doch der Abiturient des Burggymnasiums – gleich gegenüber der Münsterkirche –, der ab 1913 zunächst im Essener Stadterweiterungsamt arbeitete und sich nach dem Ersten Weltkrieg selbstständig machte, war in Essen gut vernetzt und hatte als Architekt einen Namen. In den 1920er Jahren hatte er im Stadtteil Holsterhausen den „Erzhof“ errichtet, der heute der Ruhrbahn als Verwaltung dient. Und in der Nachkriegszeit arbeitete Jung neben dem Dom auch am Wiederaufbau der Kirchen St. Gertrud in der nördlichen Essener Innenstadt und der Kirche St. Dionysius in Borbeck. Zudem errichtete er Mitte der 1950er Jahre am heutigen Kennedyplatz das „Heroldhaus“ sowie das heutige Bischofshaus (1955/1956).

Vergoldeter Hahn thront auf einer Nirosta-Kugel von Krupp

Schon im Herbst 1948 konnte Jung berichten, dass zumindest in der direkt an der Kettwiger Straße gelegenen Anbetungskirche St. Johann wieder Gottesdienste gefeiert werden konnten. Auch der Turm konnte zwischenzeitlich wieder eingedeckt und mit einem neuen Hahn gekrönt werden, der eine typische Essener Geschichte erzählt, wie Jung schreibt: „Er thront auf einer Nirosta-Kugel, die von der Fa. Friedrich Krupp aus einem Stück kunstvoll hergestellt wurde. Sie lagerte vergessen auf dem Dachboden des Kruppschen Hauptverwaltungsgebäudes und wurde auf den Antrag der Bauhütte, die Kugel einem friedlichen Zweck zuführen zu dürfen, von dem Kontrolloffizier der Militärregierung bereitwillig geschenkt.“ Sein goldenes Kleid verdanke der Hahn zudem „einer vom Pfarrer des Münsters gestifteten Goldmünze“.

Erste Messe im ganzen Dom war Feier zur Bistumsgründung

Im Dom selbst konnten erst ab 1952 wieder Gottesdienste gefeiert werden. Kardinal Frings aus Köln kam am 28. September eigens nach Essen, um zumindest das Kirchenschiff wieder einzuweihen. Eine provisorische Wand auf Höhe der heutigen Altarstufen trennte damals das Langhaus vom Chor über der 1000 Jahre alten Krypta, der nach wie vor eine Baustelle war – und es noch fünf Jahre bleiben sollte. Erst 1957 konnte die Wand wieder eingerissen werden, um am 1. Januar 1958 mit der Gründung des Bistums Essen auch die erste Messe im vollständig wieder aufgebauten Dom zu feiern. Rund 1100 Jahre nach der Gründung des Frauenstifts, 155 Jahre nach dessen Auflösung und nach 15 Jahren mit schwersten Kriegszerstörungen begann in der Geschichte des wichtigsten Essener Gotteshauses ein neues Kapitel.

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