von Thomas Rünker

Von „linken Frommen“ und katholischem Aufbegehren

Der Essener Katholikentag vor 50 Jahren war nicht nur wegen der Debatte um die Pille oder den Forderungen nach mehr Demokratie in der Kirche brisant – es war auch der erste Katholikentag, bei dem überhaupt mal couragiert diskutiert wurde, sagt Severin Gawlitta aus dem Essener Bistums-Archiv.

Das Treffen vom 4. bis 8. September 1968 gilt als Einschnitt in der Geschichte der Katholikentage

Einmütig wandten sich die Teilnehmer gegen die päpstliche Linie der Empfängnisverhütung

Auch zu anderen Themen gab es erstmals auf einem Katholikentag intensive und offene Debatten

Gottesdienste mit tausenden Menschen in der Essener Innenstadt und am Gruga-Park, intensive Diskussionen und ein großes Fest des Glaubens – vor 50 Jahren ist die Ruhrmetropole mit dem 82. Deutschen Katholikentag eine knappe Woche lang der katholische Nabel der Republik. Im Spätsommer des Umbruchjahres 1968 prägen viele Themen der Studentenproteste wie Demokratie, Frieden und Frauenrechte auch die Kirchenveranstaltung – und erhalten auf dem Katholikentag zugleich eine ganz eigene, katholische Prägung. Für reichlich Diskussionsstoff hatte zuvor die Kirche selbst gesorgt: Mit seiner Enzyklika „Humanae Vitae“ hatte Papst Paul VI. faktisch die Pille verboten – und die deutschen Bischöfe hatten ihm mit ihrer „Königssteiner Erklärung“ pünktlich zum Katholikentag eine recht distanzierte Antwort geschickt. Wohl auch deshalb mahnte Papst Paul VI. die Katholikentagsteilnehmer, Katholiken sollten sich „dem Lehramt der Kirche unterordnen“. Doch stattdessen fordern sie in einer förmlichen Resolution eine Revision der Enzyklika. „Viele Katholiken wollen Papst nicht gehorchen“, titelt die „Neue Ruhr Zeitung“. Und 50 Jahre später bilanziert der Historiker Severin Gawlitta im Essener Bistumsarchiv: „Das war das erste Mal, dass sich Katholiken in dieser Form gegen den Papst gestellt haben, was für großes Aufsehen sorgte.“

„Alleluja wird gesungen, mit Marx- und Engelszungen“

Daneben sind es wohl auch die – für einen Katholikentag bis dahin mehr als ungewohnten – Ausdrucksformen des Sommers 1968, die dem Essener Katholikentag bis heute einen Hauch von Revolutionärem anhängen lassen. Schon bei der Begrüßung schallt Bischof Franz Hengsbach entgegen: „Hengsbach, wir kommen, wir sind die linken Frommen.“ Woraufhin er kontert: „Wenn Sie nicht nur links sind, sondern wirklich fromm, sind Sie herzlich willkommen.“ Nach Fotos mit Protestplakaten wie „Sich beugen und zeugen“, „Wir reden nicht über ,die Pille‘ – wir nehmen sie“ oder „Alleluja wird gesungen, mit Marx- und Engelszungen“ wird Gawlitta bis heute immer wieder gefragt. Er widerspricht aber dem Eindruck, der Essener Katholikentag sei fünf Tage lang vom 68er-Protest geprägt gewesen. Tumulte habe es „vor allem bei zwei großen Veranstaltungen zu Ehe und Familie“ gegeben, sagt Gawlitta. Und nur eine sehr kleine Gruppe der insgesamt rund 120.000 Besucher – davon etwa 20.000 Dauerteilnehmer – sei für die kreativen Plakate verantwortlich gewesen. Verglichen mit dem öffentlichen Bild des Katholikentages seien die meisten Diskussionen diszipliniert und geordnet abgelaufen.

Die besondere Bedeutung des Essener Katholikentags ist aus Sicht des Historikers dennoch gerechtfertigt. „Essen war anders, weil auf dem Katholikentag insgesamt viel und intensiv diskutiert wurde.“ Dies mag Katholiken- und Kirchentagsbesucher der Gegenwart überraschen, war seinerzeit aber tatsächlich ein Novum. Zudem habe der Essener Katholikentag eine bis dahin nicht gekannte Medienpräsenz erreicht, so Gawlitta. Das Fernsehen ist Mitte der 60er Jahre in vielen Haushalten präsent. Zudem hat der Katholikentag erstmals eine eigene Zeitung – und die „kritischen Katholiken“ geben zusätzlich noch eine eigene heraus. Und sogar der „Spiegel“ berichtet aus Essen: „Doch waren es nicht nur die Linken, die gegen den weltfremden Papst aufbegehrten. Wie noch auf keinem der 81 vorangegangenen Katholikentage gab es eine Opposition gegen Rom“. Nicht nur die Tatsache, dass gegen die Kirchenleitung aufbegehrt wurde, sondern mit welcher Einmütigkeit dies geschah, sorgt bis heute für Erstaunen.

Katholiken mussten das Diskutieren erste lernen

Das ungewohnt offene Gespräch, kontroverse Diskussionen und Abstimmungen über Resolutionen hätten die Katholiken 1968 indes erst lernen müssen, so Gawlittas Einschätzung. Auch deshalb sei es wohl bei manchem Forum recht turbulent zugegangen. Mit dem Motto „mitten in der Welt“ habe der Katholikentag 1968 zudem Themen gefunden, „bei denen jeder mitreden konnte“. So diskutieren tausende Teilnehmer über Ehe, Familie und die Zukunft der Empfängnisverhütung, aber auch die Zukunft der Kirche ist vielen ein großes Anliegen. Die „Ruhr-Nachrichten“ schreiben vom „neuen Selbstbewusstsein der Katholiken, aber auch den Spannungen, denen die Kirche dauernd ausgesetzt ist“.

Erfolg für Bischof Hengsbach

Für den jungen Ruhrbischof Franz Hengsbach war der Katholikentag nach Gawlittas Einschätzung durchaus ein voller Erfolg. Zehn Jahre nach der Bistumsgründung sah Hengsbach das Christentreffen als Gelegenheit, „über die Konzilsbeschlüsse und ihre Implementierung zu beraten“, so Gawlitta. Zudem sei das Treffen dank Hengsbach „perfekt organisiert“ gewesen. Dies dürfte einer der Faktoren sein, weshalb der Katholikentag den Organisatoren angesichts der brisanten Themen nicht wie befürchtet „um die Ohren geflogen“ ist. Umstritten ist, ob schon die Diskussionen und Beschlüsse des Katholikentags oder erst die Entwicklungen der folgenden Monate und Jahre Hengsbach von einem anfänglichen Verfechter zu einem eher zurückhaltenden Vertreter in Fragen der Demokratisierung und stärkeren Laien-Mitbestimmungen gemacht haben.

Ermuntert vom „kritischen Katholizismus“ auf dem Katholikentag formierten sich vielerorts kirchen-oppositionelle Gruppen wie der „Essener Kreis“ im Ruhrbistum, die sich später bundesweit zusammenschlossen und den Weg für Initiativen wie „Kirche von unten“ oder „Wir sind Kirche“ ebneten. Und die Amtskirche löste ab 1971 schließlich mit der „Würzburger Synode“ gewissermaßen die Katholikentags-Forderung nach einem „Nationalkonzil“ ab. Bis 1975 diskutierten – und entschieden – Bischöfe, Priester und Laien gemeinsam, wie die Ergebnisse des Konzils in Deutschland umgesetzt werden sollen.

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