von Cordula Spangenberg

„Uns erwarten ganz neue Formen des Wir-Gefühls“

Über die „große Vermächtnis-Studie“ diskutierte Bischof Overbeck mit Infas-Geschäftsführer Menno Smid auf Einladung der „Wolfsburg“

Partnerschaft, Kinder, Arbeit, gutes Essen – trotz großer sozialer Unterschiede unterscheiden die Menschen in Deutschland sich kaum in ihren Wünschen an das Leben. Das ist das Ergebnis der repräsentativen „Vermächtnis-Studie“ der Wochenzeitung „Die Zeit“, des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) und des Institutes für angewandte Sozialwissenschaft (Infas). Über die Werte, die die Menschen bewahren wollen, und die Veränderungen, die Angst auslösen, kam am Mittwochabend, 13. September, Ruhrbischof Dr. Franz-Josef Overbeck mit Infas-Geschäftsführer Menno Smid in den Räumen der Bank im Bistum Essen ins Gespräch.

„Eine Landkarte sozialer Gefühle und Einstellungen“ sei die Vermächtnis-Studie, sagte Moderator Dr. Michael Schlagheck, Direktor der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ als Veranstalter des Abends. Im Jahr 2015 waren über 3.000 Menschen zwischen 14 und 80 Jahren gefragt worden: „Wie ergeht es uns in der Welt von heute? Welche Gesellschaft wünschen wir uns für künftige Generationen? Und was erwarten wir in der Welt von morgen?“ Die Einzelinterviews dauerten fast zwei Stunden und umspannten Fragen nach dem sozialen Leben, der Liebe, dem Lebensstil, dem Wohnen und Essen, der Gesundheit und Kommunikation, dem Berufsleben und Besitz.

Die befragten Menschen, erklärte Menno Smid, seien total verschieden: jung oder alt, gut oder schlecht gebildet, arm oder reich, in sogenannten geordneten oder ganz anderen Verhältnissen lebend, werktätig oder arbeitslos. Trotz dieser Unterschiede bewerteten sie das wirklich Wichtige im Leben aber ungefähr gleich. Harmonie in der Partnerschaft – gleich welcher Couleur – sei ihnen wichtig, und sich Kinder zu wünschen, gehöre für die meisten auch dazu. Besitz zu haben, sich gesund und fit zu halten, gemeinsam am Tisch zu sitzen und gut zu essen: Die allermeisten, nämlich 92 Prozent der Studienteilnehmer, haben den Eindruck, dass sie entsprechend ihrer eigenen Werte und Normen lebten. „Konform mit den eigenen Überzeugungen zu sein, ist eine wichtige Basis für Glück und Zufriedenheit“, sagte Menno Smid.

In ihre Erwerbstätigkeit seien die Deutschen geradezu verliebt, sagte Smid im Blick auf die Umfrageergebnisse. Klar, sagte Bischof Overbeck dazu: Arbeit sei für die meisten eben nicht nur Broterwerb, sondern auch eine Möglichkeit, die Zeit sinnvoll und nützlich unter Menschen zu verbringen. Weil die meisten Deutschen so empfänden, fühlten Arbeitslose sich schnell ihrer Würde beraubt – das sei ein wichtiger Grund, möglichst vielen Menschen Beschäftigung zu ermöglichen.

Die gleichen Befragten, die ihre Gegenwart so positiv beurteilten, hätten im Blick auf die Zukunft jedoch eher das Gefühl, dass ihre eigenen Werte künftig keine Rolle mehr spielen würden, erläuterte Menno Smid die Ergebnisse der Studie. „Das Heute ist besser als die Zukunft“, diese Einschätzung sei den Interviewern häufig begegnet. Für Bischof Overbeck ist die derzeit stabile wirtschaftliche Lage mit ihren materiellen Sicherheiten der Grund dafür, dass Menschen lieber den Status Quo erhalten, als sich auf etwas Neues einzulassen. Genau deshalb seien die vielen Flüchtlinge des Jahres 2015 als Bedrohung des Standards empfunden worden, erklärte der Bischof.

Auch in der Kirche begegnet Overbeck immer wieder der Einschätzung, dass die Zukunft Besorgnis erregend und das Gestern besser als die Gegenwart sei. „Oft wird in der Kirche zunächst auf die Vergangenheit geschaut, um daraus abzuleiten, wie die Kirche in Zukunft sein soll“, sagte der Bischof. Er selbst ist aber optimistisch: „Ich sehe die Aufgabe der Christen eher in der Verantwortung für die Gestaltung dessen, was vor den Menschen liegt.“

Einen weiteren Grund zur Beunruhigung sehen laut der Vermächtnis-Studie viele Zeitgenossen in der neuen Technik. „Die Digitalisierung verändert unsere Gewohnheiten in Kultur, Konsum und Kommunikation gravierend“, so Smid. Die Menschen befürchteten deshalb, dass aufgrund neuer technischer Möglichkeiten ihre als so wichtig empfundene Erwerbstätigkeit sich radikal verändern werde, das Wir-Gefühl schwinde und die eigene Wertestruktur überflüssig werde. Aber auch hier sieht Bischof Overbeck die Entwicklung weniger kritisch: „Die neuen Techniken verändern das Bewusstsein, ermöglichen uns neue Formen von Wahrnehmung, Kommunikation und Vernetzung. Da erwarten uns ganz neue Formen des Wir-Gefühls.“

Eine Video-Aufzeichnung des Diskussionsabends ist hier abrufbar.

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