von Thomas Rünker

Trotz Startschwierigkeiten zum Abitur: Fünf geflüchtete Schülerinnen meistern Integration und Schulabschluss

Vor rund acht Jahren kamen sie als Kinder aus geflüchteten Familien praktisch ohne Deutschkenntnisse ans Bischöfliche Abtei-Gymnasium in Duisburg. Jetzt erhalten Vafa, Joudi, Melisa, Rakela und Yara stolz ihre erfolgreichen Abitur-Zeugnisse. Damit sind die fünf jungen Frauen Beispiele für die erfolgreiche Arbeit der Internationalen Vorbereitungsklassen, die Kinder für den Unterricht in Regelklassen fit machen.

Geflüchtete Schülerinnen absolvieren erfolgreiche Abitur-Prüfungen

Internationale Vorbereitungsklassen fördern schulischen Erfolg

Engagierte Lehrerin überzeugte skeptisches Kollegium

Dunkle Haare, modische Kleidung und ein fröhlicher und selbstbewusster Blick – egal ob diese fünf jungen Frauen auf dem Flur des Bischöflichen Abtei-Gymnasium stehen oder irgendwo in der Duisburger Nachbarschaft unterwegs sind: Sie sehen aus wie viele andere Jugendliche auch. Was sie auszeichnet und zu außergewöhnlichen Schülerinnen macht, steckt in ihren Köpfen – und ab Freitagabend in ihren Taschen: Vafa, Joudi, Melisa, Rakela und Yara haben erfolgreich das Abitur bestanden, obwohl sie erst im Alter zwischen 10 und 12 Jahren ohne jegliche Deutschkenntnisse nach Duisburg gekommen sind. Sie gehörten zu einer der ersten Internationalen Vorbereitungsklassen, die das katholische Gymnasium als Reaktion auf die zahlreichen Geflüchteten eingerichtet hat, die etwa ab 2015 ins Ruhrgebiet kamen, und die dank einer Vereinbarung mit der Stadt Duisburg heute zum festen Bestandteil des Schulprogramms gehören.

Lehrerin Grazia Cavallo-Müller freut sich, ihre ehemaligen Schülerinnen vor der Zeugnisübergabe am Freitag noch einmal wiederzusehen. Sie öffnet die Tür zum Raum der Internationalen Klasse – und schon werden Erinnerungen wach: „Ihr seid in den Pausen so oft zu mir gekommen und habt gesagt: Wir wollen zurück zu Ihnen“, sagt die Lehrerin mit dem Akzent einer gebürtigen Italienerin. Zwei Jahre lang sind Kinder, die ohne Deutschkenntnisse ans Abtei-Gymnasium kommen, in ihrer Vorbereitungsklasse, bevor sie in eine Regelklasse oder auf eine andere Schule wechseln. In der Internationalen Klasse stand für die fünf heutigen Abiturientinnen vor allem Deutsch auf dem Stundenplan – und Mathe bei Emmanuel Zografakes. „Ich hatte den Eindruck, dass es den Kindern guttat, im Mathe-Unterricht mal nicht an Sprache zu denken“, sagt der Lehrer, der selbst griechischen Wurzeln hat. Melisa nickt – sie hatte als Kind schon in der Türkei erfolgreich an Mathewettbewerben teilgenommen, bevor sich ihr türkischer Vater und ihre ukrainische Mutter aus politischen Gründen für die Ausreise nach Deutschland entschieden. Mit Zahlen konnte sie auch in Deutschland etwas anfangen – und beim Text drumherum unterstützten manchmal Zografakes mit einfacheren Formulierungen oder Cavallo-Müller mit Übersetzungshilfen. Am Freitag bekommt Melisa nicht nur ihr Abi-Zeugnis mit der Note 2,3, sondern auch eine Ehrung für das beste Chemie-Abi der Schule. Nun möchte sie Chemie oder BWL studieren. „Ich muss mich für etwas einschreiben oder eine Ausbildung beginnen, sonst wird mir mein Aufenthaltstitel aberkannt“, beschreibt Melissa eine Perspektive, die vielen deutschen Abiturientinnen und Abiturienten unbekannt sein dürfte.

Dank Englisch-Kenntnissen konnte Rakela schnell in eine Regelklasse wechseln

Wer in der Internationalen Klasse Fortschritte macht, wird bereits innerhalb der zwei Jahre „teilintegriert“ und nimmt in einzelnen Fächern in einer Regelklasse teil. Davon hat Rakela profitiert, die in Albanien geboren ist und mit ihrer alleinerziehenden Mutter und den beiden Brüdern nach Deutschland kam, weil ihr Bruder hier nach einem Unfall medizinisch besser betreut werden konnte. „Wir hatten hier nichts und mussten völlig neu anfangen, das war schon hart“, erinnert sich Rakela – und ihre Mitschülerinnen nicken. Solche Erfahrungen haben alle Fünf als Geflüchtete gemacht. Rakela hat Vafa im Übergangsheim kennengelernt und über sie von der besonderen Klasse im Abtei-Gymnasium gehört. Auch Rakela konnte kein Deutsch, aber sich immerhin auf Englisch verständigen. Cavallo-Müller schickte sie deshalb schon nach kurzer Zeit für die Englisch-Stunden in eine Regelklasse. Hier kam Rakela der bilinguale Zweig der Schule zugute, bei dem auch Nebenfächer auf Englisch unterrichtet werden. Nun hat Rakela ein bilinguales Abi abgelegt und hofft, dass nach erfolgreicher Eignungsprüfung die Note 1,9 für das Architektur-Studium ausreicht.

Spätestens nach zwei Jahren endet die behütete Zeit in der Internationalen Klasse von Frau Cavallo-Müller. Dass nicht alle ihre Schützlinge den Weg zum Abitur schaffen und ihr nun nur fünf aus einer Anfängerklasse von 18 Kindern mit einem erfolgreichen Abschluss gegenübersitzen, sieht Cavallo-Müller nicht als Scheitern – weder für sich noch für die anderen Schülerinnen und Schüler – ganz im Gegenteil: „Alle Kinder bekommen in den zwei Jahren bei uns ein Rüstzeug, das ihnen in Deutschland weiterhilft“, sagt die Lehrerin. Sie kam selbst erst mit 27 der Liebe wegen nach Deutschland, lernte die deutsche Sprache, unterrichtete erst Erwachsene und übernahm dann die damals neue Internationale Klasse am Abtei-Gymnasium. Sie ist nicht nur eine warmherzige Pädagogin, sondern mit ihrer Geschichte auch das beste Vorbild für ihre Schülerinnen und Schüler. Und sie spricht Klartext, sagt „Sprache lernen ist mühsam“, – und mit Blick auf das Migrantinnen-Dasein: „Ihr müsst immer ein bisschen besser sein als die Deutschen.“

Entscheidung nach zwei Jahren Internationale Klasse belastet die Kinder

Wie sehr jedoch die Entscheidung am Ende der Internationalen Klasse gerade die Kinder belastet, habe man an Yara gesehen, sagt Cavallo-Müller – und die aus dem Irak stammende Abiturientin nickt. „Wir sind im Juli 2015 nach Deutschland gekommen“, erzählt sie – als der sogenannte Islamische Staat den Irak terrorisierte. Wie bei ihren Mitschülerinnen hat es auch bei Yara Monate gedauert, bis sie schließlich am Abtei-Gymnasium gelandet ist. Immerhin hatte sie bis dahin im Sozialpastoralen Zentrum Petershof in Marxloh schon ein paar Monate lang einen Deutschkurs besucht. Trotzdem stand sie nach zwei Jahren Internationale Klasse auf der Liste derer, die eine Haupt- oder Gesamtschul-Empfehlung erhalten sollten. Cavallo-Müller berichtet, dass Yara „kaum noch gegessen und sich sehr zurückgezogen hatte“. Letztlich war es wohl ihr Verdienst, ihre zunächst skeptischen Kolleginnen und Kollegen doch davon überzeugen zu können, Yara eine Chance am Gymnasium zu geben. „Nach der Konferenz konnte ich Yara telefonisch nicht erreichen“, erzählt Cavallo-Müller. „Da habe ich meinen Mann gebeten, mich zu Yaras Familie zu fahren – ich wollte ihr die gute Nachricht doch sofort mitteilen.“ Dort traf sie das Kind und seine Eltern, die jede Menge Freudentränen vergossen hätten, berichtet die Lehrerin – und hat selbst feuchte Augenwinkel. Ihr Engagement hat sich ausgezahlt: Yara hat ihr Abi mit 2,0 bestanden und träumt wie schon als junges Mädchen „immer noch davon, Medizin zu studieren“, sagt sie. Dass der Numerus Clausus dafür höher ist, weiß sie. Und doch macht sie einen so entschiedenen Eindruck, dass man ziemlich sicher davon ausgehen darf, Yara in ein paar Jahren in einer Klinik oder einer Arztpraxis treffen zu können.

„Wichtig ist, dass man an sich glaubt!“

„Diese Fünf vereint, dass sie für ihr Ziel gekämpft haben“, sagt Mathe- und Chemielehrer Zografakes. Ihre Noten hätten sich „von Jahr zu Jahr verbessert“. So erklären auch die Abiturientinnen ihren Erfolg. Alle berichten, dass sie irgendwann verstanden hätten, dass sie mit Lernen erfolgreich sein können. „Wichtig ist, dass man an sich glaubt!“, sagt Rakela. Zugleich erzählen sie, dass gerade der Wechsel in eine Regelklasse für alle eine schwierige Umstellung gewesen sei – nicht nur wegen der neuen Fächer auf Deutsch, sondern auch wegen der anderen Kinder. Rakela: „Ich war das einzige Kind aus einer Internationalen Klasse, alle anderen hatten schon Freunde. Außerdem habe ich mich geschämt, mich mit meinem schlechten Deutsch im Unterricht zu melden.“ In der 9. Klasse habe sie dann eine Tisch-Nachbarin bekommen, mit der aus einer anfänglichen Zweckbeziehung – „Ich habe ihr in Englisch geholfen, sie mir in Deutsch“ – eine Freundschaft entstanden sei.

Joudis Familie kam 2017 in Folge des syrischen Bürgerkriegs nach Deutschland – und Joudi nach zehn Monaten mit Deutsch-Lern-Videos auf YouTube endlich ans Abtei-Gymnasium. Jetzt hat Joudi das Abi mit 1,6 beendet und hofft auf einen Studienplatz für Pharmazie. Zudem wird sie am Freitag für das beste Mathe-Abi der Schule geehrt. Vermutlich passiert dann das, was Vafa jüngst mit Staunen feststellte: „Einige in unserer Stufe wussten gar nicht, dass wir früher in der Internationalen Klasse waren.“ Integration ist wohl auch, sich gemeinsam über die gleichen Lehrer aufzuregen.

Identitätsfragen und Kampf um Aufenthalts-Status und Einbürgerung

Schülerin des St.-Hildegardis-Gymnasium macht bestes Abi in Duisburg

Das andere Bischöflichen Gymnasium in Duisburg – das St.-Hildegardis im Dellviertel – freut sich über die beste Abiturientin der Stadt. Julia Antonin hat unter anderem mit ihren Leistungskursen Englisch und Deutsch insgesamt 897 von 900 möglichen Abi-Punkten erzielt. Neben der Schule interessiert sie sich fürs Tanzen und hat im August an der Weltmeisterschaft im dem Völkerball verwandten Dodgeball teilgenommen. Nach einem Pflegepraktikum möchte sie Medizin in Münster studieren.

Und doch haben die Fünf auch mit Top-Abi-Zeugnissen und besten Deutsch-Kenntnissen bis heute mit ihren Flucht-Geschichten zu kämpfen. Das eine sind Identitäts-Fragen, wie sie viele Zugewanderte umtreiben. Melisa berichtet: „Ich habe mein ganzes Leben zurückgelassen.“ Solle sie sich jetzt als Deutsche fühlen, oder noch als Türkin? Und dann ist da der Krieg in der Ukraine, in die sie durch ihre Mutter ja ebenfalls eine Verbindung hatte. Das andere sind praktische Fragen rund um Aufenthalts-Status und Einbürgerung, die bei Vafa deutlich werden. Sie ist die extrovertierteste und die, die die Clique zusammenhält. Ihre Eltern kommen aus Aserbaidschan. Nach drei Jahren in den Niederlanden und vielen Ortswechseln in Deutschland – „Flüchtlinge müssen viel umziehen“ – kam sie schließlich nach Duisburg und auf das Abtei-Gymnasium. Jetzt hat sie ihr Abi mit 2,3 bestanden – und ist über dieses Ergebnis „richtig froh“. „Ich bin die erste in meiner Familie, die die Schule abgeschlossen hat“, sagt sie stolz. Nun würde sie gern Polizistin werden – und da wird’s bürokratisch. Die Ausbildung könne sie erst nach der Einbürgerung beginnen, sagt sie. Einen Termin dafür hat sie im kommenden Jahr – vereinbart bereits 2023, unter anderem wegen der langen Bearbeitungszeiten in der Ausländerbehörde.

„Ihr gehört jetzt zur Elite“, verabschiedet Cavallo-Müller ihre fünf einstigen Schützlinge. Sie hofft, dass deren herausragende Leistungen nun auch außerhalb der Schule Anerkennung finden.

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