Neues Leben auf 12,5 Quadratmetern: Tiny Houses für Wohnungslose

Am Rand des Gemeindegeländes St. Michael bieten die Tiny Houses, winzige Häuser, den früheren Wohnungslosen Schutz und Freiraum für sich. Fotos: Nicole Cronauge | Bistum Essen
Walter* hängt eine große Discounter-Plastiktasche über die Schulter, zieht die Tür seines Hauses zu, dreht den Schlüssel um und steckt ihn in die Hosentasche. Eine noch ungewohnte Situation für den Gelsenkirchener, denn ein eigenes Dach über dem Kopf hatte er schon länger nicht mehr. Sein neues Zuhause ist 12,5 Quadratmeter groß: Ein rot gestrichenes Tiny House mit weißen Fenstern und Türen und einer kleinen Veranda. Direkt gegenüber ragt der backsteinerne Kirchturm von St. Michael in den Himmel.
Auch wenn Walter noch richtig ankommen muss, hat er sein Haus in Gelsenkirchen-Hassel mit Dingen eingerichtet, die für ihn ein Zuhause ausmachen. Sich öffentlich zeigen und seine Geschichte als Wohnungsloser erzählen, möchte er lieber nicht, lässt aber einen Blick durch seine Tür zu. Die blau-weiß-karierte Bettwäsche auf seinem Bett ist glatt gefaltet, daneben steht ein Stuhl mit ein paar Kleidungsstücken, eine schwarze Jacke hängt über der Lehne. Neben seiner kleinen Küchenzeile hat der Ü50-Jährige eine bunt geblümte Decke auf den Tisch gelegt. Direkt daneben führt eine Tür ins geräumige Badezimmer mit Dusche, Toilette und Waschbecken.
Die Tür hinter sich zu machen und einfach mal alleine sein
Vor dem Haus ist es warm, aber die Rollos an Fenstern und Tür halten die Sonne draußen, die großen, alten Bäume über dem Dach spenden Schatten. Wenn es wieder kälter wird, kann Walter einfach die Heizung neben seinem Bett anmachen, die Rollos schützen auch vor neugierigen Blicken. Für den ehemaligen Wohnungslosen vermutlich das Wichtigste: Die Tür hinter ihm schließen und für sich sein. „Dieser Schritt ist elementar wichtig, ohne einen festen Wohnsitz geht es für Wohnungslose oft nicht weiter“, weiß Holger Ott, Leiter der katholischen Jugendsozialarbeit Gelsenkirchen. „Hier im Tiny House zu wohnen, hat auch nochmal eine ganz andere Hemmschwelle. Die Bewohner müssen sich nicht vor den Nachbarn erklären und kommen von der Straße direkt in eine Wohnsituation, in der zu viel von ihnen erwartet wird. Hier haben sie mehr Freiheiten und Privatsphäre und es meckert nicht direkt jemand, weil es zu laut ist oder der Flur noch nicht gewischt.“ Einige Jugendliche, die Ott unterstützt, beruflich und gesellschaftlich wieder Fuß zu fassen, haben die Tiny Houses in Gelsenkirchen gebaut – für sie auch eine Chance, mit dieser Erfahrung bald Job oder Ausbildung zu finden.
Dass die Tiny Houses überhaupt gebaut werden konnten, dazu hat auch Gertrud Wagner beigetragen. Die 95-Jährige wohnt auf der anderen Seite der Stadt, suchte schon lange eine Möglichkeit, Wohnungslosen zu helfen. „Ich habe die armen Menschen so oft gesehen, wie sie im strömenden Regen gerannt sind, um sich in den nächsten Unterstand zu retten. Das hat mir jedes Mal so leid getan und ich wollte etwas daran ändern“, erzählt sie. Sie nutzt ihren guten Kontakt zur katholischen Kirche und spendet Geld, um das Bauprojekt ins Rollen zu bringen. Die Skizzen kennt sie schon lange, aber zum ersten Mal ist sie vom Süden in den Norden gefahren, um sich die fertigen Tiny Houses anzusehen. Die Seniorin ist überrascht und begeistert: „Das ist toll, was auf so wenig Quadratmetern möglich ist. Für jemanden, der fast nichts mehr hat, ist das doch so viel wert.“
Das, was für Walter sein neues Zuhause ausmacht, sind vor allem auch seine neuen Nachbarn. Drei andere Männer wohnen in den Tiny Houses neben ihm, zwei kennt er schon lange, hat sie immer wieder auf den Straßen Gelsenkirchens oder in Hilfseinrichtungen getroffen. Sie teilen ähnliche Lebensgeschichten, können sich austauschen, gegenseitig helfen und zusammen unterwegs sein. Einige Männer haben zwar Kontakt zu ihren Familien, doch die Nachbarschaft im neuen Zuhause ist für alle vermutlich eine ganz besondere Stütze.
Hilfe und Motivation für den neuen Lebensabschnitt
Damit Walter die Struktur seines neuen Lebensabschnitts halten und darauf aufbauen kann, hat er Melanie Stelter an seiner Seite. Die Betreuerin im ambulant betreuten Wohnen der Caritas besucht die vier Bewohner regelmäßig, hilft bei Aufgaben wie Strom anmelden oder Handys besorgen, macht mit ihnen Termine bei Behörden aus, sucht wenn nötig Infos zu Entzugskliniken oder Therapien und ist tagsüber immer ansprechbar. „Sie entscheiden natürlich frei, wie sie ihr Leben weiter gestalten wollen, aber ich bin einfach da, motiviere und sorge dafür, dass sie sich nicht alleine fühlen“, sagt die 47-Jährige. „Wenn das Vertrauen da ist, können sie mit mir natürlich auch über persönliche Sorgen oder Probleme sprechen.“
Immer wieder hatten die Männer in den vergangenen Wochen auch Kontakt zu ihren neuen Nachbarn der gegenüberliegenden Kirche. In wenigen Metern Fußweg sind sie am sozial-caritativen Zentrum „7 Werke“, für das Laura Meemann verantwortlich ist. „Es ist total schön, dass die vier jetzt hier sind. Wir sehen uns oft und quatschen immer mal wieder, beim Einzug konnten wir auch schon mal mit einer Leiter oder Werkzeug aushelfen.“ Wenn die Männer wollten, könnten sie in Zukunft auch dauerhaft im Zentrum mitarbeiten, etwa in der Kleiderkammer oder bei der Essenstafel, sagt Meemann. „Wir können uns einfach gegenseitig bereichern und mit unseren unterschiedlichen Lebenserfahrungen viel voneinander lernen.“ (lm)
*Name von der Redaktion geändert