Länger gemeinsam lernen, individuell fördern

Für den Schulversuch der "Gemeinschaftsschule", in der alle Kinder und Jugendlichen optimal und individuell gefördert werden sollen, warb Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, auf einer Tagung in der Katholischen Akademie "Die Wolfsburg" in Mülheim.

Schulministerin Sylvia Löhrmann warb in der “Wolfsburg“ für die Gemeinschaftsschule

Das Thema „Gemeinschaftsschule“ wird heiß und auch kontrovers diskutiert, bei Landes- und Kommunalpolitikern genauso wie bei Lehrern und Eltern. Bei der Frage nach der richtigen Schulform, die alle Schüler bestmöglich und individuell fördert, gehen die Meinungen auseinander. „Es war zu erwarten, dass Unruhe entsteht“, so Dr. Michael Schlagheck, Direktor der Katholischen Akademie "Die Wolfsburg" in Mülheim, zu Beginn einer Veranstaltung, die unter dem Thema „Auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule“ die neue Schulpolitik der nordrhein-westfälischen Landesregierung auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Es gehe darum – so Schlagheck – das Konzept der Gemeinschaftsschule „richtig wahrzunehmen“, die Motive für die Einführung von Gemeinschaftsschulen zu verstehen und das von Grünen, SPD und Linken in NRW favorisierte Reformvorhaben  zu hinterfragen.

Vor rund 100 Lehrern, Schulleitern und interessierten Akademiebesuchern warb Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen,  für den neuen Schulversuch, der zum Schuljahresbeginn 2011/2012 in 14 Kommunen Nordrhein-Westfalens an den Start geht.  Nach Ansicht der Ministerin ist der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft hierzulande immer noch zu groß. „Die Bildung der Kinder darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen“, betonte Löhrmann. Außerdem müsse das Schulsystem „bessere Ergebnisse in der Breite und Spitze“ erzielen. Auf diese zentralen Herausforderungen sei die Gemeinschaftsschule die richtige Antwort. Fast jeder fünfte Schüler in Deutschland sei nicht gut genug für eine gute Ausbildung. Hinsichtlich der „Bildungsspitze “ bliebe Deutschland international zurück. „Ziel ist es, ein Schulsystem zu schaffen, in dem jedes Kind und jeder Jugendliche unabhängig von seiner Herkunft seine Chancen und Begabungen optimal nutzen und entfalten kann“, so die Ministerin. Schließlich habe jedes Kind den Rechtsanspruch auf individuelle Förderung. „Das Kind gehört in den Mittelpunkt“, fordert Löhrmann. Die Schulen müssten „für die Kinder passen“ und nicht umgekehrt.


Nicht aussortieren, vorsortieren und einsortieren

„Wenn Kinder und Jugendliche in Milieus leben, in denen sie ihr Potenzial nicht entfalten können, dann muss der Staat die Rahmenbedingungen zu verändern“, so die Ministerin. Im dreigliedrigen Schulsystem werde immer noch zu sehr auf die soziale Herkunft der Schüler geachtet und weniger auf deren Potenziale. „Deshalb möchte ich, dass wir uns in unseren Schulen nicht mehr so viele hoffnungslose Fälle leisten“, unterstrich Löhrmann. Die geplante Gemeinschaftsschule sorge für „mehr Durchlässigkeit“ und somit für bessere Bildungschancen. Man dürfe nicht mehr „aussortieren, vorsortieren und einsortieren“.

Der wissenschaftlich beleitete Schulversuch der Gemeinschaftsschule sieht eine Schule der Sekundarstufe I mit den Klassen 5-10 vor, die auch gymnasiale Standards enthalten sollen. Schülerinnen und Schüler der Klassen 5 und 6 werden gemeinsam in heterogen zusammengesetzten Lerngruppen unterrichtet. Ab der Doppeljahrgangsstufe 7/8 erfolgt – in der Regel unter Beibehaltung der Klassenverbände – eine erste Schwerpunktsetzung durch unterschiedliche Anforderungsebenen in den Kernfächern sowie in einem neu gestalteten Wahlpflichtbereich (zweite Fremdsprache, Wirtschaft, Naturwissenschaften, Arbeitslehre, etc.) . Eine zweite Schwerpunktsetzung erfolgt dann in der Doppeljahrgangsstufe 9/10. Bei entsprechenden Leistungen ist nach Abschluss der Klasse 10 der Wechsel in die gymnasiale Oberstufe möglich.


Die Gemeinschaftsschule ist keine „Einheitsschule“

„Durch das längere gemeinsame Lernen in der Gemeinschaftsschule sollen mehr Schüler zu besseren Abschlüssen geführt werden“, betonte Löhrmann. Mit dem Schulversuch werde den Schulträgern außerdem die Möglichkeit gegeben, durch Zusammenführen bereits bestehender Schulformen zu einer Gemeinschaftsschule „ein umfassendes wohnortnahes Schulangebot zu erhalten“.
Die Ministerin wandte sich dagegen, die Gemeinschaftsschule „als Einheitsschule zu diffamieren“. Die neue Schulform sei eine „Schule für alle“. Auch beabsichtige die Landesregierung, das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung auszubauen. Die Förderung von Schülern mit unterschiedlichen Behinderungen (Inklusion) solle in den allgemeinen Schulen der Regelfall werden. Eines stellte die Ministerin klar: „Ich schließe von Seiten des Landes keine Schule und schaffe auch keine Schulform ab.“ Löhrmann sprach von einem „Ermöglichungsweg“ und von der Hoffnung, in Nordrhein-Westfalen einen Schulkonsens zu erreichen. 


Differenzierung ist keine Selektion

Dass es zum Bildungsauftrag der Schule gehöre, Schülern das mitzugeben, „was sie von Natur aus nicht bringen und was sie allein nicht erwerben können“, machte Professor Dr. Jürgen Rekus, Karlsruhe, in seinem Kurzvortrag deutlich. Die Schule trage dazu bei, dass der Mensch „gesellschaftlich integriert“ werde. Dieser Bildungsauftrag sei nicht leicht einzulösen, da jeder Schüler ein Individuum sei. Das mache eine „Differenzierung der Wege“ erforderlich.  „Ein Kind hat ein Recht auf individuelle Bildung“, so Rekus. Die Menschenwürde verbiete es, einzelne von Bildungschancen auszuschließen. Der Begriff „Bildungsgerechtigkeit“ habe aber nichts mit dem ethischen Gerechtigkeitsbegriff zu tun. Gerechtigkeit meine hier „gerecht werden“ oder „entsprechen“. Auch wandte sich der Pädagogikprofessor dagegen, „Differenzierung“ als eine „Selektion“ anzusehen: „Im Bildungswesen wird niemand aussortiert. Durch Differenzierung wird einsortiert.“ Es gehe letztlich um eine „pädagogisch sinnvolle Gruppierung“.


Förderschulen nicht abschaffen

Für eine innere und auch äußere Differenzierung sprach sich die Schulleiterin der Essener B.M.V.-Schule, eines katholischen Mädchengymnasiums in Trägerschaft der Augustiner Chorfrauen, Schwester M. Ulrike Michalski, aus. In der Podiumsdiskussion appellierte sie an die Ministerin, die Förderschulen nicht abzuschaffen. „Inklusion richtet sich an alle Schulformen und nicht nur an die Gemeinschaftsschule“, betonte die Schulleiterin. Förderung solle dort stattfinden, wo es einen Förderbedarf gebe.
Dass in den Schulen in Trägerschaft des Bistums Essen „vom Kind aus gedacht“ werde und „nicht von der Demografie oder Schulform“, unterstrich Bernd Ottersbach, Dezernent für Schule und Hochschule im Ruhrbistum. So ganz überzeugt ist er vom neuen Schulversuch noch nicht. „Man darf Gleiches nicht ungleich behandeln und Ungleiches nicht gleich“, mahnte er. Ottersbach beklagte, dass das Bistum in seinem Schulzentrum am Stoppenberg in Essen einen eigenen Versuch“ starten wolle, das Ministerium in Düsseldorf sich jedoch sperre. Vielfalt müsse möglich gemacht werden.
Auf Anfragen nach mehr Lehrern und kleineren Klassen im Hinblick auf eine optimale individuelle Förderung konnte die Ministerin keine positive Zusage machen. Doch sie ließ durchblicken, dass die Wochenstundenzahl der Lehrer gesenkt werden solle. (do)        

Pressestelle Bistum Essen

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