von Cordula Spangenberg

„Ich fürchte eine gottlose Gesellschaft“

Gregor Gysi, ostdeutscher Politiker und Präsident der Europäischen Linken, kam in Nettetal-Lobberich ins Gespräch mit dem Essener Generalvikar Klaus Pfeffer. Gysi: "Ich lese in der Bibel." Pfeffer: "Auch in der Kirche kennen wir die Angst vor dem freien Wort."

Politische Ideologien mit Kontrollfunktion und ein allzu eng gefasster Katholizismus haben eine ungute Gemeinsamkeit: „Eine Struktur, an die man sich gewöhnt hat, stellt man aus Angst und Gewohnheit nicht mehr in Frage.“ So formulierte Gregor Gysi, Präsident der Europäischen Linken, eine übereinstimmende Erkenntnis mit dem Essener Generalvikar Klaus Pfeffer. Nach Gysis Erfahrung akzeptierten viele DDR-Bürger selbst solche der Stasi-Überwachung geschuldeten Sätze wie: „Das erzähl ich dir lieber nicht am Telefon.“ Pfeffer sieht ähnliche Strukturen der moralischen Überwachung auch im Katholizismus des 20. Jahrhunderts, die nicht selten einen „Befreiungsweg“ erfordere: „Wir kennen in der Kirche auch die Angst vor dem freien Wort.“

Gysi (69), Jurist, Rechtsanwalt und Politiker aus Ost-Berlin, und Pfeffer (54), gelernter Journalist, Jugendseelsorger und Priester in leitender Funktion aus dem märkischen Sauerland, trafen am Freitag, 27. Oktober, vor gut 200 Zuhörenden in der „Alten Kirche“ in Nettetal-Lobberich zusammen – einem Gottesdienstraum, der das Gespräch zwischen Politik und Religion fördert, weil er beispielhaft für andere wenig genutzte Kirchen das Konzept „Gott – Mensch – Kultur“ unter einem Dach verwirklicht. Eine gemeinsame Haltung entwickelten der Linken-Politiker, der bei fehlendem eigenen Glauben dennoch ein gutes Verhältnis zu den Kirchen pflegt, und der Generalvikar, der den „Systemwandel“ der Kirche im Bistum Essen mit verantwortet, nicht nur zu den Altlasten einer Überwachungsmentalität in Staat und Kirche, sondern auch zu aktuellen nationalen und globalen Herausforderungen. Gysi erkennt hinter den politisch nach rechts gerückten jüngeren Wahlergebnissen westeuropäischer Staaten den Wunsch, „die Geschichte um 60 oder 70 Jahre zurückzudrehen. Aber das wird nicht funktionieren“. Pfeffer beobachtet die Abwehr, mit der viele Katholiken auf Änderungen in ihrer Kirche reagierten: „Da gibt es Angst auf höchsten Etagen, aber auch in Gemeinden, die oft sehr auf sich bezogen sind und andere Milieus gar nicht mehr kennen.“

Gregor Gysi liest nach eigenem Bekunden öfter in der Bibel als im Parteiprogramm der Linken und sieht Jesus von Nazareth in sozialen Fragen an der Seite seiner Partei. Der langjährige Bundestagsabgeordnete betrachtet die Kirchen als einzige Garanten, die allgemeinverbindliche Normen für die Gesellschaft aufstellen könnten: „Ich fürchte eine gottlose Gesellschaft.“ Denn die Linke selbst habe vielleicht den Wunsch, aber nicht die Kraft, für die Gesamtgesellschaft Werte zu definieren. Bescheidener sieht Klaus Pfeffer allerdings den Beitrag der Kirchen zur Konsensbildung: Die Kirchen ständen an der Seite anderer Akteure der Gesellschaft, die gemeinsam einen Diskurs über Werte wie etwa die unverbrüchliche Würde des Menschen oder den Schutz der Schöpfung zu führen hätten.

In der Frage des Schutzes der Menschenrechte von Flüchtlingen standen Pfeffer und Gysi Seite an Seite: „Wir leben zu großen Teilen auf Kosten anderer und haben kein naturgegebenes Recht auf unseren Status angesichts der dramatischen Situation auf unserem Globus“, kritisierte Pfeffer die Abschottungsmentalität vieler Zeitgenossen. Und Gysi ergänzte, wolle man die Zahl der Flüchtlinge reduzieren, müsse man so schnell und konkret wie möglich die Fluchtursachen in den Herkunftsländern beseitigen: „Ich bin selbst nicht gern arm. Und ich lebe auch nicht gern mit Armen zusammen. Also muss ich etwas gegen die Armut unternehmen.“

Mit den christlichen Kirchen fühlt der Politiker etliche Gemeinsamkeiten: „Mag sein, dass bei den Kirchen nicht alles im Lot ist. Aber unzählige Menschen in den Kirchen vermitteln Werte wie Menschenwürde und Frieden.“ Für sich selbst hat er eine konkrete Anregung mitgenommen: „Ohne die Kirche käme doch kein Mensch darauf, dass man seinen Feind lieben soll. Ich hasse nicht zurück. Das hat mir Souveränität gegeben.“

Pressestelle Bistum Essen

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