Fachtagung diskutiert Wege der Erinnerung an sexuellen Missbrauch in der Kirche
Tagung diskutiert künftige Erinnerung an sexuellen Missbrauch in der Kirche
Inspiration aus der Erinnerungsarbeit über die Verbrechen des Nationalsozialismus
Diskussion über Zeitpunkt und Methoden der Erinnerungsarbeit
Kann man an etwas erinnern, das noch in vollem Gange ist? Und wenn ja, wie? Und kann man überhaupt von einer Erinnerungskultur sprechen, wenn es um abscheuliche Verbrechen geht? Fragen wie diese bestimmten jetzt eine Fachtagung in der Bistumsakademie „Die Wolfsburg“: Gemeinsam suchten dort am Mittwoch, 26., und Donnerstag, 27. Juni, Missbrauchs-Betroffene und Fachleute in der Aufarbeitung des katholischen Missbrauchsskandals nach Wegen, an den sexuellen Missbrauch in Kirche und Gesellschaft zu erinnern.
Dass diese Frage durchaus drängend und alles andere als ein intellektuelles Gedankenspiel ist, zeigen aktuelle Beispiele: Im Ruhrgebiet wurden eine Statue abgebaut und Plätze umbenannt, als das Bistum Essen im vergangenen Jahr Missbrauchsvorwürfe gegen den Gründerbischof Franz Hengsbach veröffentlichte. In einzelnen deutschen Dom-Kirchen weisen Text-Tafeln darauf hin, dass die dort beigesetzten Bischöfe „aus heutiger Sicht schwere Fehler im Umgang mit Opfern und Tätern von sexuellem Missbrauch begangen“ hätten – so die Formulierung in Paderborn -, oder dass es, wie in Hildesheim, konkrete Missbrauchsvorwürfe gegen verstorbene Bischöfe gibt.
Ein Konsens der Tagungsrunde mit Teilnehmenden aus den verschiedensten Regionen Deutschlands sei: „Den Königsweg an Erinnerung gibt es nicht“, so der „Wolfsburg“-Dozent Jens Oboth, der die Veranstaltung gemeinsam mit der Publizistin und Missbrauchs-Betroffenen Johanna Beck organisiert und geleitet hat. Entscheidend sei, dass in Sachen Erinnerung überhaupt etwas passiere.
Inspirationen aus der NS-Erinnerungsarbeit
Inspirationen für das Wie der künftigen Missbrauchs-Erinnerung holte sich die Tagung unter anderem von dem Historiker Jens-Christian Wagner, Leiter der KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittalbau-Dora. Trotz der fundamentalen Unterschiede zwischen den staatlich organisierten Verbrechen der Nationalsozialisten und dem sexuellen Missbrauch im System der Kirche gebe es in der Erinnerungsarbeit durchaus Parallelen, so Oboth. So plädierte Wagner dafür, dass sich das Erinnern nicht nur in einem Betrauern der Opfer erschöpft, sondern auch die Täter und das Umfeld in den Blick nimmt. Wenn das Mantra der Erinnerungsarbeit „Es darf nie wieder passieren!“ laute, müsse auch das Versagen und Verdrängen der Institution untersucht und Mechanismen, die die die Verbrechen überhaupt erst möglich gemacht haben. Für das Bistum Essen hat hier die im vergangenen Jahr vorgestellte sozialwissenschaftliche Aufarbeitungsstudie einen ersten Schritt unternommen.
Wie die Menschen und Einrichtungen, die die Erinnerung an die NS-Verbrechen wachhalten, konnten auch viele Teilnehmende der „Wolfsburg“-Tagung für ihr Thema Missbrauchs-Erinnerung schon von „Schlussstrich“-Forderungen und anderen Ermüdungserscheinungen in der Erinnerungsarbeit berichten, zum Beispiel in Formulierungen wie: Die Kirche habe nun doch schon so viel an Aufarbeitung getan, damit müsse es doch jetzt auch mal gut sein. Ähnliche Stellungnahmen gab es bereits in den 1950er Jahren mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus. Wichtig sei, die Erinnerung nicht zu historisieren, damit nicht der Eindruck entstehe, das Thema sei erledigt, betonte der Historiker Wagner.
Ist es für Erinnerung noch zu früh?
Im Gegensatz zu Schlussstrich-Debatten stand die „Wolfsburg“-Tagung jedoch auch mehrfach vor der Frage, ob man überhaupt jetzt schon mit der Erinnerungs-Arbeit beginnen solle. So betonte Martin Schmitz von der Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch, dass es „noch zu früh für eine Erinnerungskultur“ sei, weil zunächst noch sehr aktuelle Fragen geklärt werden müssten, etwa zu den Anerkennungsleistungen, die die Kirche Missbrauchs-Betroffenen zahlt.
Auch Ludger Schrapper, der Vorsitzende der Unabhängigen Aufarbeitungskommission (UAK) im Bistum Essen stellte die Frage nach der zeitlichen Perspektive für eine Erinnerungsarbeit. Zum einen gebe es aktuelle Missbrauchsfälle, wo vor jeder Aufarbeitung und Erinnerung zunächst eine fachlich versierte Intervention und Hilfe für die Betroffenen gefragt seien. Zum anderen gebe es historische Fälle, „die eigentlich vergessen waren und plötzlich bekannt werden“, so Schrapper. Ein solches Beispiel sei der Fall Hengsbach, der angesichts seiner großen Relevanz für das Ruhrbistum und das ganze Ruhrgebiet auch die Arbeit der UAK verändert habe und dem sich die Kommission derzeit besonders widme. Aufarbeitung – also der Versuch, Vergangenes noch einmal neu zu bearbeiten, damit sich etwas Ähnliches in Zukunft nicht wiederholt – und Erinnerungsarbeit seien für ihn kein Gegensatz, so Schrapper, „entscheidend ist, dass wir es tun“.
Endlichkeit der Unabhängigen Aufarbeitungs-Kommissionen
Zumindest die Aufarbeitung in den – weitgehend ehrenamtlich besetzten – Unabhängigen Aufarbeitungs-Kommissionen werde jedoch endlich sein, so Schrapper. So plane die Essener UAK, Anfang 2027 ihre Arbeit auszuwerten – und auch die Gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung zur Missbrauchsaufarbeitung sehe grundsätzlich End-Termine für die Arbeit der UAK in den deutschen Bistümern vor. „Wenn die Kommissionen endlich sind, stimmt es mich hoffnungsvoll, dass das Thema Aufarbeitung vermehrt in den Organigrammen der Bistümer auftaucht“, sagt Schrapper. So sei die Stabsstelle Prävention und Intervention im Bistum Essen jüngst ausdrücklich um den Bereich Aufarbeitung erweitert worden. Die Frage sei indes „machen wir damit nicht den Bock zum Gärtner?“ wenn anstelle unabhängiger Kommissionen künftig Kirchenangestellte die Aufarbeitung organisierten.
Auch diese Frage konnte die Tagung nicht beantworten, sondern allenfalls für die Agenda einer vielfach gewünschten Folge-Veranstaltung festhalten. Zudem kamen neben der naturgemäß sehr auf ein Bistum fixierten Sicht einer UAK auch ganz andere Erinnerungs-Perspektiven zur Sprache: Vielleicht könnte es eine zentrale Stelle für die Missbrauchserinnerung geben; einen Ort, an dem Bildung ebenso einen Platz finden könnte wie Trauer, lautete ein Vorschlag. Bezüglich fester Mahnmale habe es eine „gewisse Skepsis“ der Teilnehmenden gegeben, so Tagungsleiter Oboth. Stattdessen seien künstlerische Projekte diskutiert worden, wie die Installation „Shattered Souls… in a Sea of Silence“, bei der Dennis Josef Meseg im vergangenen August 333 Kinderfiguren vor dem Kölner Dom aufgestellt hat. Unter anderem inspiriert vom Ort des abgebauten Hengsbach-Kunstwerks am Essener Dom hätten sich die Tagungs-Teilnehmenden zudem mehrfach für „Leerstellen“ anstelle von Mahnmalen oder anderen dauerhaften Installationen ausgesprochen, berichtete Oboth.