Erste Essener Vinyl-Andacht begeistert mit Musik und Tiefgang
Motto „Herbsterwachen“ verbindet Pop-Musik von Vinyl mit tiefgehenden Texten.
Vinyl-Platten als bewusste Alternative zum schnellen Streaming.
U2 und Fantastische Vier bieten Vorlagen für spirituelle Reflexionen.
„God is a DJ“ singt die US-Musikerin Pink und die britische Band Faithless. Doch in der Essener St.-Bonifatius-Kirche stehen an diesem Freitagabend die beiden Gemeindemitglieder Barbara Kretschmer und Stefan Bäune am Plattenteller. Zum ersten Mal hat ein ehrenamtliches Team der Gemeinde zu einer „Vinyl-Andacht“ eingeladen, „zu einer Stunde bewusstes Einlassen und Hinhören auf Musik vom Plattenspieler“, wie Seelsorger Michael Diek die rund 100 Premierengäste begrüßt. Dann übernimmt der funkige Bass von Earth, Wind & Fire die Regie: Manche Ohren müssen sich erst an den schnellen und lauten Klang in der zuvor flüsterleisen Kirche gewöhnen. Aber als nach 20 Sekunden der Gesang des 70er Jahre Songs „September“ einsetzt, sieht man manchen Fuß oder Kopf (oder beides) in den Kirchenbänken mitwippen – und manch‘ entspanntes Grinsen, das sich auf den Gesichtern breitmacht.
„Eine Vinyl-Platte ist für mich Entschleunigung“
„Herbsterwachen“ hat das musikbegeisterte Gemeindeteam als Motto über die Andacht geschrieben – und lässt nach dem tanzbaren Intro in loser Folge Musik und meditative Texte einander abwechseln. „Eine Vinyl-Platte, das ist für mich Entschleunigung, das ist das bewusste Hinhören“, erklärt Bäune auf Dieks Frage, ob man das musikalische Programm nicht auch mit einem Streamingdienst wie Spotify abspielen könnte. „Wenn ich bei Spotify nicht nach zehn Sekunden einen Zugang zu einem Lied habe, wische ich weiter“, so Bäune – bei einer Platte sei das anders. Was er damit meint, wird anschließend bei jedem neuen Stück sicht- und hörbar. Wie ein Ritual schieben Kretschmer und er am eigens aufgebauten DJ-Pult die Papierhülle aus dem Cover. Sie nehmen die Platte aus der Hülle, legen sie auf den drehenden Teller, suchen die passende Stelle und lassen auf Knopfdruck die Nadel sinken. Während dann in den Boxen die ersten Töne erklingen, wird das Cover sorgsam neben dem Plattenspieler gut sichtbar unter einer eigens installierten Lampe drapiert – und die bunte Beleuchtung der Backsteinkirche farblich angepasst.
Texte mit erstaunlich viel Tiefgang
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Die Musik an diesem Abend reicht von Kate Bush und U2 über Herbert Grönemeyer – mit dem titelgebenden Song „Herbsterwachen“ –, Anna Loos und den Fantastischen Vier bis zu Dualipa und Marius Müller-Westernhagen. Die Texte dazwischen erinnern manchmal an eine Musiksendung („erfolgreichstes Album … 14 Wochen auf Platz 1 der Charts“), haben aber bei aller Unterhaltung erstaunlich viel Tiefgang. Als Stefan Bäune nach U2s „I Still Haven't Found What I'm Looking For“ zum Mikrofon greift und das erfolglose Suchen der irischen Band mit eigenen Alltagserfahrungen vergleicht (Fazit: „Manchmal sollte man weniger suchen und lieber wertschätzen, was man bereits gefunden hat“) haben manche im Publikum einen lohnenden „Predigt“-Gedanken für den Heimweg im Kopf, wie sie im Anschluss betonen. Und der Song „Ernten was wir säen“ der Fantastischen Vier sei „eine Steilvorlage“, wie Pastoralreferent Diek mit einem Schmunzeln betont, um über das biblische Gleichnis vom Sämann zu sprechen. „Nur säen und einfach wachsen lassen wird nicht funktionieren – ich muss mich kümmern“, sagt der Seelsorger. „Und doch haben wir nicht alles selbst in der Hand.“
Hoffnung, dass die Vinyl-Andacht kein „One-Hit-Wonder“ bleibt
So ist dieser Abend für alle – routinierte Gäste der Sonntagsmesse in St. Bonifatius, aber auch ganz viele bislang unbekannte Gesichter – eine sehr ungewohnte Kirchenerfahrung. Ausnahmslos begeistert äußern sich diejenigen, die noch lange nach dem Schlussakkord von Westernhagens „Lass uns Leben“ mit einem Glas Wein oder Wasser beisammenstehen und einander erzählen, wie gut ihnen das bewusste Musikhören getan hat. Viel Schulterklopfen gibt’s für das ehrenamtliche Team – das das Konzept tatsächlich aus einer Partyidee heraus entwickelt hat – verbunden mit der Hoffnung, dass die erste Vinyl-Andacht nun kein „One-Hit-Wonder bleibt.