Ehrenamtliche Krisen-Hilfe am Telefon
Wenn andere schlafen, ist sie hellwach und wartet in ihrem Büro auf das Klingeln des Telefons. Marianne Berger, wie sie sich hier nennen will, arbeitet seit knapp 20 Jahren ehrenamtlich in der Telefonseelsorge Duisburg Mülheim Oberhausen – und das am liebsten nachts. „Dann rufen mich oft Menschen an, denen noch Probleme durch den Kopf geistern“, sagt die 73-Jährige, die ihren echten Namen nicht sagen und auch nicht erkannt werden möchte. Sowohl die Mitarbeitenden der Telefonseelsorge als auch die Anrufenden bleiben anonym.
Während ihrer letzten Schicht, die von drei Uhr nachts bis sieben Uhr morgens dauerte, führte Marianne Berger vier Gespräche. Ein Rentner rief an, weil er mit jemandem über seine schwere Krankheit sprechen wollte. Eine junge Frau hatte Probleme in der Partnerschaft. Ein Mann mittleren Alters machte sich Sorgen um seinen Job. Die letzte Anruferin brauchte Zuspruch, um aus dem Bett aufzustehen. „Es gehört auch zu unserem Job, antriebslose Menschen durch ihren Alltag zu begleiten“, sagt Marianne Berger. „Wir motivieren sie dazu, sich einen Kaffee zu machen und den Tag zu beginnen.“ Die Stimme der Duisburgerin mit dem weißen kurzen Haar ist tief, ihre Worte sind sorgfältig gewählt.
Allein die Telefonseelsorge Duisburg Mülheim Oberhausen hat 130 Ehrenamtliche
Die Telefonseelsorge in Deutschland und im Bistum Essen
Die Telefonseelsorge ist bundesweit unter 0800 1110-111 oder 0800 1110-222 gebührenfrei und anonym erreichbar. Träger der Einrichtung sind die Katholische und die Evangelische Kirche. Auch Menschen, die aus Oberhausen und Mülheim anrufen, landen am Standort Duisburg. Dort kann man Beratungs- oder Seelsorgegespräche auch persönlich, per Chat oder per E-Mail führen. Mehr dazu auf www.telefonseelsorge-duisburg.de.
In ganz Deutschland bietet die Telefonseelsorge ein flächendeckendes Netz mit insgesamt 104 regionalen Stellen. Im Ruhrbistum gibt es neben Duisburg auch Standorte in Essen, Bochum und Hagen-Mark. Die Hagener Telefonseelsorge feiert in diesem Jahr ebenfalls ihr 50-jähriges Bestehen. Alle Telefonseelsorgen suchen ehrenamtliche Mitarbeitende und bieten diesen eine ausführliche Qualifizierung. Infos und Kontakt gibt es jeweils auf den örtlichen Internetseiten.
130 Ehrenamtliche arbeiten allein bei der Telefonseelsorge in Duisburg, die 2024 ihr 50-jähriges Bestehen feiert. „In den ersten Jahren hatten wir es vor allem mit Menschen zu tun, die mit jemandem über eher alltägliche Probleme sprechen wollten. Da ging es zum Beispiel um Erziehungsfragen“, erinnert sich Georg Beckschwarte, Leiter der Einrichtung. „Inzwischen rufen uns immer mehr Leute an, denen es richtig schlecht geht. Die gar nicht mehr rauskommen aus ihren Wohnungen und nicht wissen, wie sie den Tag überstehen sollen.“ Viele der Anrufenden klagten 2023 über emotionale Erschöpfung, was Georg Beckschwarte auch mit den aktuellen Geschehnissen in der Welt in Verbindung bringt: Auswirkungen der Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Zunahme von Hass und Gewalt.
Bundesweit haben vergangenes Jahr 1,2 Millionen Menschen telefonisch Zuwendung gesucht. In Duisburg klingelten die Telefone mehr als 17.000-mal. Jeder Fünfte litt darunter, allein zu sein oder sich allein zu fühlen. „Auch Menschen, die nach außen hin ein funktionierendes soziales Leben haben, sind von Einsamkeit betroffen“, sagt Beckschwarte. „Und zwar dann, wenn die Kontakte, die sie pflegen, nicht die Qualität, Tiefe und Dichte haben, die sie sich wünschen.“
Auch auf Anrufende, die ihrem Leben ein Ende setzen möchten, müssen sich die Ehrenamtlichen einstellen. Georg Beckschwarte erinnert sich an einen Anrufer, der während des Gesprächs starke Tabletten nahm – er wollte seinem verstorbenen Bruder in den Tod folgen. Der Einrichtungsleiter hörte in regelmäßigen Abständen ein Klackern am anderen Ende der Leitung. Kapseln, die in ein Glas fielen. Er unterhielt sich lange mit dem Anrufer, sprach mit ihm über seinen Bruder. „Zum Glück kam er dann irgendwann von sich aus auf die Idee, dass er Hilfe braucht. Er nannte mir seine Adresse, sodass ich sofort einen Rettungswagen zu ihm schicken konnte. Die Sanitäter fanden ihn, bevor die Wirkung der Medikamente einsetzte.“
„In Kontakt kommen – und das am besten in den ersten Sekunden.“
Bei seinen Telefongesprächen achtet Georg Beckschwarte immer auf Nebengeräusche. Tickt irgendwo eine Uhr? Läuft gerade eine Waschmaschine oder ein Radio? „So kann ich mir besser vorstellen, in welcher Situation sich die Anrufenden gerade befinden“, erklärt er. Beckschwarte versucht, möglichst schnell eine Beziehung zu dem Menschen am anderen Ende der Leitung aufzubauen: „Die entscheidende Kunst beim Telefonieren ist es, miteinander in Kontakt zu kommen – und das am besten in den ersten Sekunden.“ Er stellt sich auf die Stimmung der Anrufenden ein. Wenn jemand zum Beispiel unter großem Druck von seinen Problemen erzählt, erhöht er auch die Lautstärke seiner Stimme, um möglichst interessiert zu klingen und die Person zum Weitererzählen zu bringen. Spricht jemand eher ruhig, wird auch er leise, ist vielleicht sogar mal einen Moment lang still. Ein Mitschwingen, für das man viel Übung braucht. Deshalb bereitet er zurzeit mit einem Sprachtrainer vom Theater eine Fortbildung für seine Mitarbeitenden vor.
Das Ziel der Telefonseelsorge ist es, Menschen zuzuhören und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. „In der Ausbildung lernen die Ehrenamtlichen, dass sie nicht da sind, um ihre eigenen Weisheiten und Ansichten an andere weiterzugeben. Die Anrufenden wissen meistens selbst ganz gut, was sie brauchen und was sie entlastet. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam mit ihnen danach zu suchen und sie darin zu bestärken.“
Marianne Berger macht sich nach jedem Telefonat Notizen. In ein dickes Protokollbuch schreibt sie stichpunktartig, worum es in dem Gespräch ging. Danach zieht sie mit einem alten Lineal einen kräftigen Strich unter ihre Anmerkungen. Ein Ritual, das ihr dabei hilft, mit dem Gehörten abzuschließen und all die leidvollen Geschichten nicht mit nach Hause zu nehmen.