von Thomas Rünker

Die katholische Landschaft wird immer bunter

Zwei Tage lang haben mehr als 100 Theologen, Seelsorger und viele weitere Kirchen-Mitarbeiter in der Mülheimer Bistumsakademie „Die Wolfsburg“ über die Zukunft der Pfarrei diskutiert. Ein Fazit: Große Pfarreien sind der Rahmen, in dem sich das kirchliche Leben vielfältig entwickeln kann – Identität stiften sie kaum.

Früher gab es für Katholiken eine Kirche mit einem Pfarrer – und wenn man im Sprengel dieser Kirche wohnte, war man in der dortigen Pfarrei zu Hause. Heute ist das Bild vielfältiger: Weil Priester fehlen und sich große Einheiten einfacher verwalten lassen, wurden in ganz Deutschland Pfarreien zusammengeschlossen – mal zu „Gemeinschaften der Gemeinden“, „Pastoralverbünden“ oder zu großen Pfarreien mit mehreren Gemeinden, wie im Bistum Essen vor rund 15 Jahren. Entstanden sind dabei Organisationen, die mehrere Orts- und Stadtteile umfassen und mehrere tausend Mitglieder zählen, die jedoch aus der Sicht mancher Gläubiger weit vom eigenen Leben entfernt sind. „Eine Pfarrei ist oftmals keine identitätsstiftende Größe mehr“, brachte es am Montag Markus Potthoff auf den Punkt, Leiter der Hauptabteilung Pastoral und Bildung im Bistum Essen. Mit über 100 Wissenschaftlern, Seelsorgenden und weiteren kirchlichen Mitarbeitenden diskutierte der Theologe am Montag und Dienstag in der Mülheimer Bistums-Akademie „Die Wolfsburg“ über „die Pfarrei der Zukunft“.

Corona hat das Tagungsthema verschärft

Eigentlich sollten die Fachleute darüber bereits vor eineinhalb Jahren in der „Wolfsburg“ debattieren, erinnerte Generalvikar Klaus Pfeffer in seiner Begrüßung. Doch die Coronapandemie habe nicht nur den Termin verschoben, sondern auch den inhaltlichen Schwerpunkt der Tagung verschärft, so Pfeffer. Die Veränderungsprozesse in unserer Kirche werden noch rasanter. „So wie vor Corona wird es auf keinen Fall mehr werden“, betonte der Generalvikar. Die Frage nach den Strukturen für das kirchliche Leben vor Ort sei damit aktueller denn je – und längst nicht nur ein Thema im Ruhrbistum, wie das große Interesse an der Tagung aus anderen Teilen Deutschlands zeige.

Potthoff: „Die Pfarrei ist ein Ordnungsrahmen“

Für das Ruhrbistum beschreibt Potthoff die Situation nach 15 Jahren mit den Großpfarreien und den Pfarreientwicklungsprozessen der Jahre 2015 bis 2018 so: „Die Pfarrei ist ein Ordnungsrahmen.“ Dieser Rahmen könne eine sichtbare Marke nach Außen sein, ein Bild der kirchlichen Präsenz in der Stadt oder im Stadtteil. Doch Identität, eine Heimat für ihren Glauben und Anknüpfungspunkte für ehrenamtliches Engagement fänden die Kirchenmitglieder vor allem in kleineren Einheiten und in sehr unterschiedlichen Formen der Vergemeinschaftung. Das kirchliche Leben finde vor Ort statt – mancherorts in klassischen Gemeinden, also an Orten mit Kirche, Gemeindeheim oder einem anderen Treffpunkt für Gottesdienste und kirchliches Leben. Daneben werde es künftig wohl noch viel stärker auf „geistliche Millieuhotspots ohne territoriale Zuordnung“ ankommen, so Potthoff. Der Salzburger Theologe Hans-Joachim Sander stellte fest, dass sich die pastorale Praxis derzeit in einem Maße verändere, „wie das in der modernen Kirchengeschichte nach der Reformation einmalig ist“. Das schaffe „große Chancen“, wecke aber auch „tiefe Ängste“.

Dörnemann: „Es braucht die Pastoral vor Ort.“

Zudem brauche es nach wie vor „die Pastoral vor Ort“, sagte Michael Dörnemann, Pastoraldezernent im Bistum Essen – wenngleich diese heute nicht mehr überall gleich aussehe. Gerade durch die Pfarreientwicklungsprozesse habe sich die Gestalt der kirchlichen Präsenz vor Ort sehr ausdifferenziert und oft stärker an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst: „Vor 30 oder 40 Jahren gab es beispielsweise in St. Markus in Essen-Bredeney das gleiche Grundangebot wie in St. Josef in Essen-Katernberg – das ist heute anders.“

Buch zur Tagung – „Gesucht: Die Pfarrei der Zukunft“

In dem im Herder-Verlag erschienen Buch „Gesucht: Die Pfarrei der Zukunft“ stellen die Herausgeber Markus Etscheid-Stams, Björn Szymanowski und Andrea Qualbrink die Auswertung der 42 Voten aus den Pfarreientwicklungsprozessen im Bistum Essen vor. Diese Analysen sowie Beiträge zahlreicher Theologinnen und Theologen geben Auskunft über aktuelle Kirchenbilder, Trends und Schwerpunkte und liefern Anregungen für die weitere Entwicklung der Pastoral in Pfarreien und Gemeinden. Unter der ISBN 978-3-451-38678-7 ist das Buch zum Preis von 32 Euro im Buchhandel erhältlich.

Werbung für „dienstleistungsorientierte Pfarreien“

Björn Szymanowski vom Zentrum für angewandte Pastoralforschung an der Bochumer Ruhr-Uni hat die pastorale Seite der Voten aller Pfarreientwicklungsprozesse im Ruhrbistum analysiert. Dabei hat der Theologe zwei grundsätzliche Pfarrei-Modelle identifiziert: einen gemeindeorientierten und einen pfarreiorientierten Typ. Vor diesem Hintergrund plädiert Szymanowski dafür: „Gemeinde darf nicht im Gegenentwurf zur Pfarrei gedacht werden. Das wird dem Potenzial der Pfarrei als Ordnungsstruktur nicht gerecht.“ Szymanowski wirbt für „dienstleistungsorientierte“ Pfarreien: Personal und Geld müsse für die Arbeit vor Ort bereit gestellt werden – nicht nur in Gemeinden, sondern auch in einem sozialpastoralen Zentrum oder anderen Projekten und Initiativen, die im Netzwerk der Pfarrei miteinander verbunden sind. Deshalb müsse die Pfarrei im Sinne einer lokalen Kirchenentwicklung orientiert an Bedarfen vor Ort denken und planen.

Vielschichtige Fragen der Kirchenentwicklung

Wie vielschichtig die Fragen der Kirchenentwicklung vor Ort sind, wurde am Dienstag anhand der acht Workshops deutlich, in denen die Tagungsteilnehmer einzelne Themen vertiefen konnten: Von Fragen der Partizipation, über die Beteiligung der Kirchenmitglieder, Steuerungsmodelle für Veränderungsprozesse, Qualitätsmanagement und Aspekte der Pfarreileitung reichte das Spektrum. Und am Ende der Tagung stand zumindest eines fest: Die Vielfalt der kirchlichen Landschaft wird in den kommenden Jahren eher noch größer werden. 

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