von Maria Kindler

„Dialoge mit dem Bischof“: Was ist uns die Familie wert?

Im Strudel aus Distanzunterricht, Homeoffice und Isolation sind viele Familien während der Corona-Lockdowns an ihr Limit gekommen. Welche Lehren aus der Pandemie zu ziehen sind, was Familien wirklich brauchen und woran sich Familienpolitik zukünftig orientieren muss – darüber wurde jetzt beim „Dialog mit dem Bischof“ in der Akademie „Die Wolfsburg“ diskutiert.

Die Familie als Verantwortungsgemeinschaft ist und bleibt nach Ansicht von Bischof Franz-Josef Overbeck das Rückgrat der Gesellschaft. „Familie ist eine Keimzelle von Gesellschaft, und zwar in aller Diversität und Komplexität, wie sie heute wahrgenommen wird“, sagte der Ruhrbischof am Dienstagabend, 1. März, in der Bistumsakademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim bei einer neuen Auflage der „Dialoge mit dem Bischof“. Die Veranstaltungsreihe läuft unter Federführung der „Wolfsburg“ in Kooperation mit der Bank im Bistum Essen. Zu einem weit gefassten Familienbegriff gehörten neben Eltern und Kindern auch Alte und Menschen mit Behinderung, betonte Overbeck.

Der Bischof diskutierte mit der früheren Staatssekretärin im NRW-Familienministerium und Bundestagsabgeordneten, Serap Güler (CDU), mit der Direktorin des Deutschen Jugendinstituts, Sabine Walper, und mit Heike Riedmann, Gründungsmitglied der „Initiative Familien“, über das Thema „Verletzlich, aber unverzichtbar – Was ist uns die Familie wert?“.

In der Diskussion zeigte sich Overbeck besorgt über die Auswirkungen der pandemiebedingten Isolation. „Ich war von Anfang an skeptisch zu sagen, dass Kinder und Eltern zu Hause in einem traditionellen, gewohnten Sicherheitsraum sind“, sagte Overbeck. Immer zusammen zu sein, überfordere das Familiensystem und führe in Beziehungen oft zu Spannungen. Isolierte Kinder seien zudem ungeschützt. Missbrauch finde aber in den meisten Fällen in der Familie statt.

Güler: Corona-Pandemie hat Bildungsungerechtigkeit vertieft

Vor allem Kinder und Jugendliche, die in sozial prekären oder armen Verhältnissen lebten, seien die Verlierer der Pandemie, sagte Güler. Im Lockdown hätten viele von ihnen keine warme Mahlzeit erhalten, weil es keine Verpflegung in Kitas und Schulen gegeben habe; viele seien auf sich allein gestellt gewesen – und das in einem Land, das die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt sei. Die Pandemie habe aber vor allem auch die Bildungsungerechtigkeit vertieft: Kinder bildungsferner, einkommensschwacher Familien mit unzureichender IT-Ausstattung seien deutlich schlechter durch den Distanzunterricht gekommen. „Familie ist Halt, Familie ist Heimat, kann Stärke bewirken, alles, aber wir haben auf der anderen Seite eben auch Dinge über Familien in diesem Land erfahren, die genau das Gegenteil für viele Kinder bedeuten“, betonte Güler. Das sei „eine bittere Erkenntnis“, dass manche Kinder vor ihren eigenen Familien geschützt werden müssten.

Zwar sei in puncto finanzieller Unterstützung von Familien in den letzten Jahren vieles passiert, aber „Geld ist nicht alles“, sagte Güler. Denn während der Pandemie seien vor allem Frauen auf „traditionelle Rollenbilder zurückgeworfen“ worden und hätten oft den großen Teil der unbezahlten Care-Arbeit in der Familie geschultert.

Ein großer Gewinn sei ohne Zweifel der riesige Sprung in der Digitalisierung sowie bei der flexibleren Gestaltung der Arbeitszeit und bei Homeoffice-Regelungen. Die Möglichkeit, im Homeoffice arbeiten zu können, trage deutlich zur Entlastung von Familien bei, sagte die Politikerin. Hier sei es oft hilfreich, auch zu schauen, was andere Länder in diesem Punkt täten. Güler verwies auf die vor zwei Wochen in Belgien verabschiedete Arbeitsmarktreform, wonach Arbeitnehmer in Vollzeit ihre Arbeit künftig flexibel an vier statt fünf Tagen verrichten können, um Privatleben und Beruf besser vereinbaren zu können.

Familienforscherin: Über Bildungspartnerschaften und aufsuchende Hilfen Familien besser erreichen

Nach Ansicht der Direktorin des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Sabine Walper, können Familien über eine stärkere Einbindung in die Bildungsinstitutionen ihrer Kinder besser erreicht werden. Zudem seien sogenannte aufsuchende Hilfen ein Mittel, um Zugang zu Familien zu bekommen, also Angebote, mit denen vor Ort Kontakt zu Familien gesucht werde und Bindungen aufgebaut würden. Hier gebe es allerdings zu wenig Fachpersonal, das zudem oft nicht ausreichend qualifiziert sei. „Aber ohne diese Dienste kommen wir nicht gut von der Stelle“, betonte Walper.

Dialoge mit dem Bischof

Die im Jahr 2012 gestartete Veranstaltungsreihe „Dialoge mit dem Bischof“ wird am 18. Oktober 2022 mit dem Thema „Brauchen wir eine institutionalisierte Kirche oder: Wie geht in Zukunft Christ:in sein?“ in der Wolfsburg, Falkenweg 6, in Mülheim fortgesetzt.

Denn Bindungen seien wichtig, weil sie stark machten, führte die Familienforscherin aus. Aus dem ersten Lockdown mit Isolation und gekappten sozialen Beziehungen sei bekannt, dass mehr als ein Drittel der Kinder – vom Kita-Kind bis zum Teenager – von Einsamkeitsgefühlen geplagt gewesen sei, Lebensfreude verloren und in schlimmen Fällen sogar depressiv geworden sei. Kinder, die – wenn auch nur virtuell – in Kontakt zu Erziehern, Lehrern und anderen Bezugspersonen geblieben seien, seien deutlich besser durch die Pandemie gekommen.

Riedmann: Kinder- und Jugendhilfe muss dringend gestärkt werden

Heike Riedmann, Gründungsmitglied der bundesweit aktiven und im Jahr 2020 gegründeten „Initiative Familien“, forderte eine deutliche Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe. Die Folgen der coronabedingten Maßnahmen auf die Entwicklung von Kindern würden uns noch jahrelang beschäftigen, sagte Riedmann. Durch die verordnete Isolation sei Kindern das „Recht auf Lebensfreude“ streitig gemacht worden. Lebensfreude bräuchten sie aber für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Hier zu kompensieren, erfordere dringend mehr gut qualifizierte Fachkräfte. Riedmann appellierte: „Wir dürfen Kitas und Schulen nie wieder schließen.“

Kirche leistet wichtigen Beitrag zur Unterstützung von Familien

Die Kirche leiste einen wichtigen Beitrag bei der Unterstützung von Familien, sagte Overbeck. „Kirche hat eine subsidiäre Funktion.“ Im Ruhrgebiet mit seinen fünf Millionen Menschen unterstütze Kirche „außerordentlich“, betonte der Bischof. Overbeck nannte exemplarisch die Begleitung von kleinen Kindern in Kindertageseinrichtungen, die neun Schulen in Trägerschaft des Bistums Essen, aber auch das Gemeindeleben, die Kinder- und Jugendarbeit in Pfarreien und Gemeinden sowie die Alten- und Behindertenhilfe und die Hospize.

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