von Angelika Wölk

Das Cello-Spielen rettete ihr in Auschwitz das Leben

Die 94-jährige Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch hat am Mittwoch in der Reihe „Dimension Domorgel“ im Essener Dom von dem erzählt, was sie in Auschwitz erlebt hat.

Sie war die Cellistin von Auschwitz. Mit 17 kam Anita Lasker-Wallfisch in das Vernichtungslager. Sie überlebte, weil sie einen Platz in dem Häftlingsorchester des Lagers erhielt. Ihre Lebensgeschichte erzählte die heute 94-Jährige am Mittwochabend im voll besetzten Essener Dom im Gespräch mit Dompropst Thomas Zander und Uri Kaufmann, dem Leiter der Alten Synagoge in Essen, musikalisch begleitet vom Domorganisten Sebastian Küchler-Blessing.

Ihre Kindheit hatte Lasker-Wallfisch mit ihren Eltern – der Vater war Rechtsanwalt, die Mutter Violinistin – in Breslau verbracht. „Samstags“, erzählt sie mit fester Stimme, „mussten wir französisch sprechen.“ Goethes Faust habe sie mit 14 auswendig gekonnt. Nein, sagt sie, die jüdischen Gesetze hätten sie nicht eingehalten, die Familie sei einmal im Jahr in die Synagoge gegangen. Es sei insgesamt eine „schöne Kindheit“ gewesen, bis, ja, bis die Nationalsozialisten begannen, Juden auszusortieren. Die Eltern wurden 1942 deportiert und ermordet. Anita und ihre Schwester blieben, sie mussten in einer Papierfabrik arbeiten.

„Besser Verbrecher sein als Jude“

Dort halfen sie französischen Zwangsarbeitern dabei, Papiere zu fälschen. Als die Schwestern dann versuchten, mit ihren gefälschten französischen Pässen nach Frankreich zu entkommen, wurden sie am Bahnhof verhaftet und in ein Gefängnis gebracht. Sie hätten schnell gelernt, dass es besser war, „Verbrecher zu sein als Jude“, erzählt sie. „Verbrecher bekamen einen Prozess, wenn auch ohne sich verteidigen zu können. Juden wurden getötet.“

1943 wurde Lasker-Wallfisch nach Auschwitz deportiert. „Der Gestank, das Geschrei, man kann sich das nicht vorstellen.“ Überlebt habe sie, weil in der neu gegründeten Kapelle des Lagers der Platz für eine Cellistin frei war. „Ich weiß nicht mehr, was mich dazu gebracht hat zu erzählen, dass ich Cello spiele. Aber deshalb sitze ich heute hier.“ Sie sagt das alles in sehr sachlichem Ton, aber das, was sie sagt, übersteigt die Vorstellungskraft der Zuhörerinnen und Zuhörer in dem voll besetzten Dom. Es ist ganz still in der Kirche, wenn sie spricht, kein Räuspern ist zu hören.

Das Orchester habe für die Arbeiter spielen müssen, in der Früh, wenn sie aus dem Lager mussten, und jeden Abend. „Tagsüber mussten wir Musik lernen.“ Dann, gegen Ende des Krieges, seien sie in Viehwagen geladen und in das Lager nach Bergen-Belsen gebracht worden. „Auschwitz lebend hinter sich lassen zu können“, hält sie inne, „das war wie ein Wunder.“ Schließlich hätten die Engländer das Lager Bergen-Belsen „befreit“. „Befreit, was heißt befreit? Befreit bedeutet, dass man nach Hause kann. Aber wo ist zu Hause?“ Nach Breslau habe sie nicht mehr gehen können, die Familie hatten die Nationalsozialisten ermordet. Elf Monate habe sie schließlich noch in Bergen-Belsen warten müssen, bis sie nach England auswandern durfte. Dort heiratete sie den Pianisten Peter Wallfisch und wurde Mitbegründerin des English Chamber Orchestra. Heute lebt sie in London.

„Hört endlich auf mit diesem blöden Antisemitismus!“

In dem anschließenden Podiumsgespräch mit Dompropst Thomas Zander und Uri Kaufmann, dem Leiter der Alten Synagoge in Essen, appellierte Lasker-Wallfisch mit großer Leidenschaft, sich gegen Antisemitismus zu stellen. „Juden sind nicht an allem schuld“, rief sie, „Juden sind nicht die Christus-Mörder, Jesus war auch ein Jude. Hört endlich auf mit diesem blöden Antisemitismus.“

Das Gespräch wurde von Orgelwerken begleitet, die für Domorganist Sebastian Küchler-Blessing für den christlich-jüdischen Dialog stehen. Die Veranstaltung gehörte in die Reihe „Dimension Domorgel“. Weil Musik auch etwas Heilendes habe, etwas, das Versöhnung bringe, erklärte Dompropst Thomas Zander.

Seit 25 Jahren besucht Lasker-Wallfisch Schulklassen

Wichtig ist der 94-jährigen Cellistin, das Erinnern wach zu erhalten, zu mahnen, erklärt sie. Auch deshalb besuche sie seit 25 Jahren Schulklassen. Und sie mache ausnahmslos gute Erfahrungen dabei. Thomas Zander spricht aber auch den noch nicht aufgeklärten Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke an, ein Rechtsextremist gilt als tatverdächtigt, und er spricht den Überfall auf die Synagoge in Halle an. Spürbar fassungslos vergleicht Anita Lasker-Wallfisch den aufflammenden Antisemitismus mit einer „Art Virus“, einen, gegen den es offenbar kein Gegenmittel gebe – schändlich sei es, beschämend.

Uri Kaufmann, Leiter der Alten Synagoge, spricht die Einzigartigkeit der Shoa in der Geschichte an, und fragt, wie sie es wahrnehme, dass Menschen versuchten, den Völkermord an den Juden mit anderen gleichzusetzen. Ja, es gebe Genozide, sie alle seien schrecklich, antwortet sie, wehrt sich aber gegen eine Gleichsetzung und fragt mit erschütternder Sachlichkeit: „Wann hat es das gegeben, dass Menschen recycelt wurden?“ Sie erinnert daran, dass in Auschwitz aus Haaren ermordeter Juden Stoffe gemacht wurden, aus Haut Lampenschirme. „Haltet den Holocaust auf der einen Seite“, sagt sie klar, ohne den zweiten Teil des Satzes aussprechen zu müssen. 

Am Ende stehen die Menschen im Essener Dom auf, danken ihr applaudierend für ihre Worte, dafür, dass sie von ihrem Schicksal erzählt hat, und dafür, dass sie die Erinnerung an das Schicksal von sechs Millionen ermordeter Juden wachhält.

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