von Jürgen Flatken

Beredtes Schweigen

Noch nie standen die Menschen dank sozialer Netzwerke so intensiv in Kontakt miteinander wie heute. Und trotzdem fühlen sich Millionen in Deutschland einsam, weil ihnen niemand mehr wirklich zuhört. Das Essener Karmelitinnen-Kloster hat ein offenes Ohr für die Menschen und wird so für viele von ihnen zum Hoffnungsort.

Die Kinder sind aus dem Haus, und trotzdem weiß jeder in der Familie, was der andere gerade macht. Der Whatsapp-Familiengruppe sei Dank. Längst vergessene Schulfreunde melden sich plötzlich bei Instagram, bei Tinder findet sich die wahre Liebe. Noch nie standen die Menschen so intensiv in Kontakt miteinander wie heute: überall sieht man Menschen wie wild auf Handys tippen und auf Tablets starren: Und trotzdem fühlen sich Millionen in Deutschland einsam.

„Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich gehöre nicht mehr zur Kirche. Aber ich habe niemanden, der mir zuhört“, wandte sich eine Frau hilfesuchend an Schwester Renata. Renata ist die Priorin, die Leiterin des Karmelitinnen-Klosters im Essener Norden. Eines Schweigeordens, der in Abgeschiedenheit, Stille und Gebet fern ab der Welt ganz für Gott lebt. Eigentlich. Denn so weltfremd wie es scheint, sind die zehn Schwestern zwischen 33 und 83 Jahren gar nicht. „Zu uns kommen fast täglich Menschen, die draußen niemanden finden, der ihnen zuhört. Wirklich zuhört und bereit ist, sich ihre Sorgen und Nöte anzuhören“, erzählt die 81-Jährige. „Das setzt mir schon zu.“ Mit traurigen Augen schaut sie durch die weißen Gitterstäbe, die den weltlichen Bereich von dem des Klosters trennt und das Besucherzimmer in zwei Sphären teilt.

Die Nonnen leben in Klausur: Ein Großteil des Klosters ist für die Außenwelt tabu. Ihr ganzes Leben spielt sich hinter den Klostermauern ab. Beten, arbeiten, essen und trinken und wieder beten. „Es hat eine Zeit gegeben, in der bin ich zehn Jahre nicht vor die Klostertür gekommen“, berichtet die Priorin schmunzelnd. „Ich brauchte nicht zum Zahnarzt. Und wählen kann man ja schließlich auch per Briefwahl.“ Dass mit der Abgeschiedenheit sei heute anders, etwas lockerer. Jetzt könne man auch mal zum Schuhe kaufen in die Stadt gehen. Und eigentlich dürfen auch keine Außenstehenden, keine Männer, die Klausur betreten. Eigentlich. „Aber gerade haben wir zwei Handwerker im Haus. Die bauen uns ein neues Bad ein“, gesteht Renata mit einem Lächeln im Gesicht. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Die braune Holztür mit den schweren Eisenbeschlägen fällt hinter ihr krachend ins Schloss. Vor der Tür pulsiert das pralle Leben der Essener Ruhrmetropole. Straßenbahnen rauschen am Kapitelberg vorbei. Dahinter: himmlische Stille. Die dicken Kirchenmauern der Kirche im Essener Norden halten den Lärm und die Hektik der Großstadt draußen, die Dauerberieselung der Umgebung verkommt zu einem unterschwelligen Brummen.

Das Leben in Stille ist durchgetaktet: Um 5 Uhr morgens heißt es aufstehen, da um halb sechs Uhr das erste Gebet in der fast 1000-jährigen Klosterkirche ansteht. Nach dem Frühstück wird bis viertel nach elf gearbeitet – von Hostienbacken über Kerzen ziehen, bis hin zu kochen, putzen, waschen und bügeln ist allerlei zu erledigen. „Dinge, die die Familie am Laufen halten.“ Jede Schwester arbeite dabei für sich, „in Zwiesprache mit Gott.“ Gebetszeiten in Stille und ein Gottesdienst runden den Tag ab.

„Eine unserer Hauptaufgaben ist es, für die Menschen zu beten. Sie, ihre Anliegen, Sorgen und Nöte stellvertretend vor Gott zu bringen“, führt die gebürtige Osnabrückerin aus. Über Telefon, Mail und auch persönlich wenden sich die Menschen mit ihren Anliegen an die Schwestern. „Ihr Kloster heißt doch `Maria in der Not´. Ich bin in Not. Ich kann nicht mehr“, beginnen viele Telefonate. „Wir können nicht mehr tun, als zuzuhören.“ Aber das helfe meistens schon. „Es befreit, das, was einen bedrückt, einmal laut auszusprechen, es einfach mal loszuwerden. Und dabei die Gewissheit zu haben: das ist hier bei Gott gut aufgehoben und kommt hier nie wieder raus“, erklärt sich Renata die vielen Gesprächsanfragen – von Frauen und Männern. „Keiner muss Angst haben, dass in der Nachbarschaft drüber getratscht wird.“

Den Schwestern ist nichts Menschliches fremd. Die Gespräche behandeln Themen wie den Verlust eines geliebten Menschen, Ehebruch, das Gefühl des Verlassen werdens, Kündigung, aber auch Burnout, Probleme in der Familie und die einfache Feststellung: Ich kann nicht mehr. „Täglich erreichen uns solche Hilferufe.“ Die nicht spurlos an den Schwestern vorbei gehen. „Die Schicksale belasten mich. Aber ich gehe damit ins Gebet, erzähle Gott von den Menschen und übergebe ihm deren Anliegen und Nöte. In diesem Vertrauen auf Gott kann ich es ertragen und aushalten.“

Dieses Vertrauen ist es, dass das Klosterleben bestimmt. „Ein wirkliches Einkommen haben wir nicht“, erzählt Schwester Renata. Das Kloster lebt von Spenden. „Ohne die kommen wir nicht rum. – Und wir bekommen ein wenig Rente.“ So habe eine Schwester vor ihrem Eintritt ins Kloster als Ärztin gearbeitet, Renata als Hotelfachfrau und Auslandskorrespondentin, bevor sie in Münster Theologie studiert hat. „Wir leben im Vertrauen auf Gott. Er hat uns schließlich hierhin gestellt. Dann wird er sich auch schon um uns kümmern“, ist sich die Priorin sicher. So sicher, dass sie ihren gutbezahlten Job aufgegeben hat und ins Kloster eingetreten ist. „Gott hat mir die freie Wahl gelassen, seinem Ruf zu folgen.“ In einer Osternacht vor 50 Jahren wurde ihr klar: „Gott will mich.“

Schwester Renata strahlt Ruhe und Zufriedenheit aus. „Wir leben im Vertrauen auf Gott und setzen unsere ganze Hoffnung auf ihn. Dadurch, dass wir 100 Prozent auf ihn setzen, können wir auch ein Ort der Hoffnung für andere sein und den Menschen in Krisenzeiten ein offenes Ohr schenken und ihnen vorbehaltlos zuhören.“ Ein Ort, so fern der Welt und ihr doch so nah. Und das ganz ohne soziale Medien.

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Die Serie „SchattenLicht“ stellt an jedem Mittwoch in der Fastenzeit Orte im Bistum Essen vor, die auf den ersten Blick nichts mit Hoffnung zu tun haben.

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