Angelika Wirtz: „Eine positive Sexualkultur hat einen starken Präventionseffekt“
Mehr Personal, mehr Kompetenz – und nun auch eine neue Leitung: Als Konsequenz aus der im vergangenen Jahr veröffentlichten Aufarbeitungsstudie zu sexualisierter Gewalt im Bistum Essen hat die Diözese das Personal in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt deutlich aufgestockt und diese Arbeit zugleich neu strukturiert und professionalisiert. Mit der promovierten Kommunikationswissenschaftlerin Angelika Wirtz hat nun eine Expertin für gesundheitsfördernde Organisationsentwicklung die Leitung des Stabsbereichs Prävention, Intervention und Aufarbeitung im Bistum Essen übernommen – und damit die Verantwortung für das Engagement der Diözese gegen sexualisierte Gewalt. Im Interview wirbt Wirtz mit ihrer Erfahrung von „Walk In Ruhr“ (WIR), dem Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin am Bochumer St.-Elisabeth-Hospital, auch im kirchlichen Kontext für eine positive Sexualkultur als Beitrag für eine wirksame Präventionsarbeit.
Frage: Frau Dr. Wirtz, vor Ihrem Wechsel zum Bistum Essen waren Sie bei „Walk In Ruhr“ (WIR) tätig, dem Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin am Bochumer St.-Elisabeth-Hospital. Von welchen Ideen und Perspektiven dort kann das Bistum Essen künftig besonders profitieren?
Angelika Wirtz: Im WIR-Zentrum war ich für wissenschaftliche Projekte der Gesundheitsförderung und Prävention verantwortlich. Darin haben wir durch Bildung und Organisationsentwicklung positive Sexualkultur in Organisationen gefördert. Positive Sexualkultur schafft für Heranwachsende ein Umfeld, das im besten Fall frei ist von Tabu, Stigma, Diskriminierung und Gewalt. Sie hat also auch einen starken Präventionseffekt.
Der Gedanke, einen positiv besetzten Begriff `Sexualkultur´ zum Zweck von Präventionsarbeit zu machen, dürfte im kirchlichen Kontext noch ungewohnt sein. Wer würde schon sagen: `Wir investieren darin, in kirchlichen Organisationen eine positive Sexualkultur zu fördern, weil wir es wollen.´? Vertrauter scheint hier, Prävention als Schutz oder Abwehr zu verstehen von etwas, das man auf keinen Fall haben möchte, nämlich sexualisierte Gewalt und Missbrauch; also: `Wir investieren in Schutzkonzeptarbeit, weil wir es müssen.´ In einer solchen Perspektive blieben wir aber dauerhaft defensiv.
Profitieren kann das Bistum Essen daher von dem Impuls, eine positive Sexualkultur aktiv für sich zu entwickeln und selbstbewusst in die Fläche zu bringen.
Frage: Seit vielen Jahren wird über sexualisierte Gewalt in kirchlichen Einrichtungen diskutiert und viel Energie in eine ständige Verbesserung der Präventionsarbeit gesteckt – dennoch ist Ihr Team weiter mit neuen Fällen von sexualisierter Gewalt konfrontiert. Woran liegt das?
Wirtz: Seit vielen Jahren? Angesichts des Alters von Kirche und der Wachstumsdauer kirchlicher Strukturen finde ich nicht, dass es die Diskussion und Präventionsarbeit seit vielen Jahren gibt, sondern seit wenigen. Wir können kaum erwarten, dass allein Schutzkonzepte – derzeit Kern der Präventionsarbeit – das Vorkommen sexualisierter Gewalt ganz eindämmen könnten.
Dennoch investiert das Bistum Essen tatsächlich viel Energie, und zwar auch in die eigene Haltung und Bereitschaft, weiter zu lernen. Ein Erfolg der Präventionsarbeit zeigt sich darin, dass die Hinweise eben Hinweise sind und gemeldet werden. Prävention hat Menschen also erfolgreich für die Wahrnehmung sexualisierter Gewalt sensibilisiert und zu diesem Thema sprachfähig gemacht. Sie hat Tabus bereits abgebaut. Gerade angesichts ihrer großen Verantwortung entwickeln wir die Präventionsarbeit weiter.
Frage: Kern der Präventionsarbeit in den Pfarreien, Schulen und anderen katholischen Einrichtungen sind die jeweiligen Schutzkonzepte. Wie kann Ihr Team die unterschiedlichen Organisationen unterstützen, damit diese Schutzkonzepte auch tatsächlich wirksam werden?
Erster Jahresbericht „Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen“
Das Bistum Essen hat einen ersten Jahresbericht veröffentlicht, der auflistet, welche Aktivitäten die Diözese in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Jahr 2023 unternommen hat. Der Bericht steht zum Download bereit.
Wirtz: Viele Mitarbeitende finden wichtig, dass ihre Organisation ein Schutzkonzept hat, haben aber bislang viel Arbeit damit. Ich denke, dass wir unser Angebot fruchtbar ergänzen können durch gezielte Unterstützung von Transfer, also der Überführung von neu erworbenem Knowhow in die Arbeitsroutine. Denn sind wir mal ehrlich, kommt man nach einer Fortbildung oder Schulung zurück ins Büro ist der Schreibtisch immer recht vollgelaufen und die frisch erlernten Impulse sind schnell vergessen. Für Transfererfolg sind auch Leitungskräfte gefragt, die seine Bedeutung kennenlernen und Arbeitszeit verfügbar machen müssen. Für diese Hürde sollten wir gezielte Angebote machen.
Außerdem wissen wir noch zu wenig über die konkreten Bedarfe der Organisationen: Wo genau greift das Konzept? Wo genau klemmt seine Umsetzung? Nicht selten sind die interne Kommunikation und das Wissensmanagement für das Klemmen hauptverdächtig. Gespräche mit den Mitgliedern der Organisation über ihre konkrete Situation sind oft äußerst motivierend und beleben das Schutzkonzept.