Seidengewänder statt kratziger Wollhemden

Elfter Band aus der Reihe „Essener Forschungen zum Frauenstift“ im Essener Dom vorgestellt. Das Buch dokumentiert die Erforschung zahlreicher Seidenstoff-Stückchen in der Domschatzkammer.

Neues Buch zu Forschungen am Essener Frauenstift

Nicht das kratzige Wollgewand war um das Jahr 1000 die Standard-Kleidung im Essener Frauenstift, sondern eher feine Gewänder – und gelegentlich sogar kostbarste Seide. In dieser Einschätzung ist sich der Essener Historiker Professor Thomas Schilp nun sicherer denn je. Gemeinsam mit seiner Kölner Kollegin Professor Annemarie Stauffer hat er im Buch „Seide im früh- und hochmittelalterlichen Frauenstift, Besitz – Bedeutung – Umnutzung“ dokumentiert, was die Erforschung zahlreicher Seidenstoff-Stückchen in der Essener Domschatzkammer über die Geschichte des Frauenstifts sagt. Am Freitag wurde dieser elfte Band aus der Reihe „Essener Forschungen zum Frauenstift“ in Essen vorgestellt.

Schatz lag Jahrhundert unter Verschluss

Die Seiden-Stücke stammen aus 15 Altären, die 1755 beim Barock-Umbau des Essener Doms abgebaut wurden. Bis dahin hatten sie mehr als 700 Jahre lang in den Altären in Blei-Dosen als Verpackung für Reliquien gedient, zum Beispiel für Knochensplitter. Und nur, weil die kostbaren Stoffe auch nach Auflösung der Altäre unter Verschluss blieben, sind sie bis heute teils exzellent erhalten. „Wir haben da einen Schatz gehoben, der Jahrhunderte lang unter Verschluss gelegen hat“, erinnert sich die Leiterin der Domschatzkammer, Dr. Birgitta Falk, an den Beginn der Erforschung der Reliquien-Kästchen vor einigen Jahren.

Bemerkenswert ist indes nicht nur, dass sich die Seiden-Stücke über nun rund 1000 Jahre erhalten haben. Viel interessanter ist für die Wissenschaftler die Frage, warum die Essener Stiftsfrauen über derart kostbare Stoffe verfügten, in die sie um das Jahr 1000 ihre Reliquien einwickelten – und woher die Stoffe kamen. In Byzanz, Zentralasien oder sogar China seien die untersuchten Seiden gewebt worden, erläutert die Textilforscherin Stauffer. Zudem stammten viele Stücke aus der Zeit zwischen 700 und 1000, waren also zum Teil schon mehrere hundert Jahre alt, als sie in Essen in die Altäre eingebaut wurden. Stauffer betont: „Diese Stoffe konnte man damals nicht einfach erwerben.“ Sie erhielt nur, wer Kontakt zu höchsten politischen und gesellschaftlichen Kreisen hatte.

Nicht alle Fragen sind geklärt

So dürften einige Stiftsdamen entsprechende kostbare Gewänder bereits mit ins Stift gebracht haben – zum Beispiel Äbtissin Mathilde, die Tochter von Kaiser Otto II., die auch auf dem Otto-Mathilden-Kreuz in der Domschatzkammer mit einem edel anmutenden Umhang abgebildet ist. Andere Seidenstoffe dürften als Geschenke ihren Weg nach Essen gefunden haben, vermuten die Wissenschaftler. „Je kostbarer das Geschenk, desto größer das Seelenheil“, erinnert Domschatzkammer-Chefin Falk an die Vorstellung mittelalterlicher Herrscher, wenn es um Präsente für das Essener Frauenstift ging. Klar ist zumindest, dass viele der Seiden-Stückchen vor ihrer Zeit als Reliquien-Verpackung bereits anderweitig verwendet wurden. „Viele Stoff-Stücke zeigen Gebrauchsspuren“, so Stauffer. Zudem habe man auffällig viele Randstücke gefunden – vielleicht Reste von Schneiderarbeiten, die zum Wegwerfen viel zu kostbar waren?

Die Forscher haben längst nicht alle Fragen klären können, die die uralte Seide aufwirft. Auf zwei kleine Sensationen verweist Annemarie Stauffer dann aber doch: Zum einen auf das Fragment, das nun auch das Titelbild des neuen Buchs ziert. Es stammt aus einem der Reliquienkästchen und wurde vor fünf Jahren erstmals in der Ausstellung „Gold vor Schwarz“ auf der Essener Zeche Zollverein gezeigt. In diesem Zusammenhang verwies ein Betrachter auf ein ähnliches Stück in einem Berliner Museum. Dieses Museum hatte – wie sich im Nachhinein herausstellte – schon mehrfach in Essen angefragt hatte, ob man nicht ein Gegenstück zu dem Berliner Seiden-Fragment hätte, von dem man wiederum wusste, dass es aus Essen stammt. Ende des 19 Jahrhunderts war es in den Besitz des in Essen-Steele geborenen Kölner Domkapitulars und Stoff-Sammlers Alexander Schnütgen gekommen – womöglich mit Hilfe eines Essener Domküsters, die in jener Zeit den Schatz verwahrten, vermutet man heute in der Domschatzkammer. Die Anfragen aus Berlin hatte man immer verneinen müssen, „weil bis dahin niemand in das hölzerne Reliquienkästchen geschaut hatte“, sagt Falk. Erst durch die Erforschung des Seiden-Bestands konnte man nun feststellen, dass das Berliner Stück exakt zu dem in Essen passt.

Stoffe werden nur selten öffentlich gezeigt

Die zweite Entdeckung der Forscher betrifft das berühmte Essener Theophanu-Evangeliar, dessen Rückseite eine vergleichsweise schlichte Holz-Rückseite ziert. Nun hat das Team um Stauffer und Falk entdeckt, dass dieses Holz einst mit edlem Seidengewebe bespannt war – und unter einem der goldenen Medaillons sogar noch einen gut erhaltenen Rest entdeckt.

Einziger Wermutstropfen für Seiden-Fans: Im Original werden die Essener Stoff-Stücke nur selten gezeigt. „Wenn wir sie ausstellen würden, wären sie bald hinüber“, ist sich Falk sicher. Zumindest gewährt der – farbig bebilderte – Band, der jetzt erschienen ist, Einblicke in die kostbaren Stoffe. (tr)


Das Buch „Seide im früh- und hochmittelalterlichen Frauenstift, Besitz – Bedeutung – Umnutzung“ ist im Klartext-Verlag erschienen und für 24,95 Euro im Buchhandel erhältlich.

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