„Lernen heißt, sich sichtbar zu verändern“

Die Gemeinde muss sich als Sozialform neu erfinden. Diese Ansicht vertrat der Pastoraltheologe Dr. Rainer Bucher am Montagabend, 8. Juli 2013, in der "Wolfsburg". Angesichts der rasanten und tiefgreifenden Veränderungen in Gesellschaft und Religion werde auch die Sozialform der Kirche nicht bleiben.


Diskussion zur Zukunft der Gemeinden in der "Wolfsburg"

Für die Zukunft der Kirche im Bistum Essen erwartet Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck hinsichtlich der Pfarreien weitere strukturelle Veränderungen. „Wir werden zu ganz anderen territorialen Strukturen kommen“, betonte er am Montagabend, 8. Juli, auf einer Podiumsveranstaltung in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim. In der Reihe „Dialoge mit dem Bischof“ diskutierte er vor gut 300 Gästen mit dem Grazer Pastoraltheologen Professor Dr. Rainer Bucher, dem Essener Sozialraumforscher Professor Dr. Wolfgang Hinte, der Religionspädagogin Sabine Lethen, KiTa Zweckverband, und der Jugendreferentin in der Gelsenkirchener Jugendkirche „GleisX“, Stefanie Gruner, die Frage nach der Zukunft der Gemeinden.

Overbeck machte deutlich, dass es angesichts der demografischen Entwicklung und sinkender Priesterzahlen keine Alternative gebe. „Pfarreien als Rechtskörperschaften werden in der Fläche wohl noch größer werden“, gab er zu bedenken. Doch der noch größere rechtliche Rahmen von Pfarreien werde nicht allein von Priestern gefüllt werden. „Es muss neu gefragt werden: Wofür sind Priester denn eigentlich da?“, so der Bischof. Sie müssten die Möglichkeit erhalten, sich wieder ganz der Aufgabe der Seelsorge und Verkündigung zu widmen. „Hier müssen wir völlig neu denken“, davon ist Overbeck überzeugt.

Dass die 2006 vom damaligen Bischof Felix Genn eingeleitete Neustrukturierung des Ruhrbistums – 258 eigenständige Kirchengemeinden wurden zu 43 Pfarreien zusammengeschlossen – und die Schließung von Kirchen den Menschen zu Herzen ginge, dessen ist sich Overbeck bewusst. „Da gibt es Trauer und Schmerz, wenn Vertrautes wegbricht, das kann ich gut verstehen“, sagte der Bischof. Für nicht Wenige sei die Gemeinde ein Stück Heimat, die an Personen und Gebäuden festgemacht werde. „Für alle bedeuten solche strukturellen Veränderungen eine lange Lerngeschichte und eine echte Trauerzeit“, so Overbeck.

Voraussetzung für alle zukünftigen Schritte sei eine Haltungsänderung. Es gehe darum, Menschen zu ermöglichen, „mit Gott in Berührung zu kommen“. Dazu brauche es Orte gelebten Glaubens, der Kommunikation, Gemeinschaft und Solidarität, die alle einschließe. „Wenn es uns gelingt, Formen des Miteinanderlebens neu und besser zu gestalten, dann sind wir näher am Evangelium“, so der Bischof.  


Kirche als Brückenbauer zwischen sozialen und kulturellen Milieus

Dass die Kirche im Bistum Essen sich in noch größeren Einheiten aufstellen muss, diese Ansicht vertrat auch der Essener Sozialraumforscher Professor Dr. Wolfgang Hinte: „Das ist realistisch und birgt Chancen.“ Er warnte davor, die Zukunft an Gebäuden fest zu machen. „Was zählt sind Themen sowie glaubwürdige und überzeugende Personen“, unterstrich Hinte. Er riet dazu, sich mit einem „naiv offenen Blick“ auf die Menschen einzulassen und ihre Lebenswirklichkeiten in den Blick zu nehmen. Die Kirche dürfe nicht länger nur danach fragen, wie sie Menschen ein Leben lang an sich binden könne. Die Gemeinde halte er für eine „wichtige Ressource im Sozialraum“, aber es gehe dort in erster Linie immer um Personen. Mit Blick auf den  gesellschaftlichen Trend zu Individualisierung und Pluralismus betonte Hinte die Bedeutung von Gemeinschaft. „Die Menschen brauchen Gemeinschaften, die plural sind, aber nicht beliebig, und die es ermöglichen, individuell zu leben. Das ist eine Chance für die Kirche“, so der Sozialraumforscher. Die Gesellschaft werde von „intermediären Instanzen“ zusammengehalten. Dort habe die Kirche „mit ihren vielen Kompetenzen, mit ihrem Wertefundament, aber offen und lernend“ eine wichtige Funktion. Hier könne sich Kirche als „Brückenbauer“ zwischen sozialen und kulturellen Milieus anbieten.  


Nichts bleibt, wie es war

Dass sich die Gemeinde als Sozialform neu erfinden müsse, diese Ansicht vertrat Professor Bucher. Angesichts der rasanten und tiefgreifenden Veränderungen in Gesellschaft und Religion, angesichts dessen, dass „nichts bleibt, wie es war“, werde auch die Sozialform der Kirche nicht bleiben. Er sieht die Kirche in einer Marktsituation. Die kirchliche Botschaft sei ein Angebot und müsse durch Überzeugungskraft vermittelt werden. „Menschen, die an Gott glauben und für diesen Glauben stehen, müssen erkennbar und erreichbar sein“, betonte Bucher. Er wünscht sich eine stärkere Wertschätzung des eigenständigen Engagements von Laien. „Lernen“ müsse für die Kirche heißen, sich sichtbar zu verändern. „Wenn die Kirche sich auf allen Ebenen ändert, sind wir einen Schritt weiter“, so der Pastoraltheologe sicher.


Kirche im Nahraum

Als ein Beispiel von Verortung von Kirche im Nahraum berichtete Jugendreferentin Stefanie Gruner von der Arbeit in der „Kirche für Junge Menschen GleisX“ in Gelsenkirchen. „Hier wird jungen Menschen ermöglicht, ihre Kirche an ihren Orten mitzugestalten“, so Gruner. Offen und auf Augenhöhe werde über Wünsche und Visionen gesprochen. Das Gefühl, akzeptiert und respektiert zu werden, sei dabei äußerst wichtig. Die Verortung von Jugendlichen – so die Jugendreferentin – in den Gemeinden habe abgenommen. Trotzdem seien sie an Kirche interessiert. Bei der Suche junger Menschen nach ihren Prioritäten müsse Kirche ihnen eine überzeugende Antwort auf die Frage geben, warum es wertvoll sei, ein Christ zu sein.

Eltern, deren Kinder in einer Kindertageseinrichtung betreut werden, haben oft eine ganz unterschiedliche Haltung zur Kirchengemeinde. Das ist die Erfahrung von Sabine Lethen, Religionspädagogin im KiTa Zweckverband des Bistums Essen. Auch die Motive, das Kind einer katholischen Kita anzuvertrauen, seien verschieden. „Für Menschen, die zu uns kommen, ist die Kita oft eine Anlaufstelle von Kirche“, berichtete Lethen. Wichtig sei es,  dass Kinder und Eltern hier authentische Menschen erlebten, die aus ihrem Glauben heraus handeln. So seien auch die Kitas „Orte pastoralen  Handelns“. (do)

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