Konzilstexte neu lesen und fruchtbar machen

Das Gedenken des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren dazu zu nutzen, dessen Dokumente neu zu lesen und fruchtbar zu machen, dazu rief der Bischof von Mainz, Kardinal Karl Lehmann, in seiner Fastenpredigt im Essener Dom auf. Zahlreiche Aussagen des Konzils seien bis heute noch nicht genügend zur Kenntnis genommen worden.


Kardinal Karl Lehmann hielt Fastenpredigt im Essen Dom

Zahlreiche Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) sind nach Ansicht des Bischofs von Mainz, Kardinal Karl Lehmann, bis heute noch nicht genügend zur Kenntnis genommen worden. „Wir sollten die Chance des Gedenkens des Konzils vor 50 Jahren dazu nutzen, die Texte neu zu lesen und auch mit neuer Bereitschaft fruchtbar zu machen“, betonte er in seiner Predigt in der Reihe „Glaubenszeugnisse in der Fastenzeit“ im vollbesetzten Essener Dom. Dort sprach er zum Thema „Lumen gentium – Kirche als Volk Gottes“ – insbesondere über das zweite Kapitel der Konstitution über die Kirche.

Was das Wesen der Kirche betrifft, habe es immer zahlreiche Bildaussagen zum Wesen der Kirche gegeben, wie etwa „Leib Christi, Volk Gottes, Tempel des Heiligen Geistes“. Das Bildwort „Volk Gottes“, das stark geprägt sei durch die „soziopolitische Bedeutung in der Tradition“,  habe man früher für die Beschreibung der Autorität und die Gegenüberstellung von Hierarchie und Kirchenvolk verwendet. Erst im 20. Jahrhundert sei das Verständnis der Kirche als „Volk“ von seinem biblischen Ursprung her wieder aufgenommen worden „und ist im Zweiten Vatikanischen Konzil, speziell im zweiten Kapitel von ‚Lumen gentium‘, zu einer verbindlichen Grundaussage der Kirche über sich selbst geworden“, so Lehmann.


Jesus Christus ist die Mitte

Die Rede von der Kirche als Volks Gottes schließe jedoch die zentrale Verwendung der Kirche als „Leib Christi“ nicht aus. „Wenn man vom Volk Gottes spricht, muss die Person, das Wort und Wirken Jesu Christi die Mitte der Lehre der Kirche bleiben und muss die Kirche wesentlich von den Sakramenten der Taufe und der Eucharistie her verstanden werden“, betonte der Kardinal. Er wies darauf hin, dass die Worte „Lumen gentium“ – Licht der Völker – sich nicht auf die Kirche beziehen, „sondern deutlich machen: Christus ist das Licht der Völker“.

In dem Bildwort „Volk Gottes“ gebe es – so Lehmann – „zunächst die Notwendigkeit der ständigen Umkehr und Erneuerung der Kirche“. So heißt es in der Kirchenkonstitution: „Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig. Sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung.“ Auch wenn das Konzil das Wort von der „sündigen Kirche“ vermeide, „so ist diese grundlegende Anfälligkeit zur Sünde mitausgesagt“, betonte der Kardinal.  


Grundlegende Gemeinsamkeit aller Glaubenden

Eine wichtige Besonderheit der Kirchenkonstitution und vor allem des zweiten Kapitels liege darin, „dass das Verständnis von Kirche von Anfang an auseinanderfällt in das Volk und die Hierarchie“, so Lehmann. Schon sehr früh sei es eine Versuchung gewesen, die versammelte Gemeinde als „Volk“ von den Leitern der Gemeinde und des Gottesdienstes wenigstens funktional abzuheben. Dies sei auch in der Gegenwart immer wieder artikuliert worden. Dabei sei die Unterscheidung nicht einfach falsch. „Aber es ist verhängnisvoll, den ‚Leib Christi‘ bzw. das ‚Volk Gottes‘ von Grund auf in zwei oder mehr Stände zu spalten“, sagte der Kardinal. Deshalb sei es eine grundlegende Entscheidung von „Lumen gentium“, den Begriff des Volkes Gottes „im Voraus zu jeder Unterscheidung der verschiedenen Charismen, Dienst und Ämter auf die alle Glaubende eigene Gemeinsamkeit zu konzentrieren“, so Lehmann. In der Konstitution heiße es: „Wenn auch einige nach Gottes Willen als Lehrer, Ausspender der Geheimnisse und Hirten für die anderen bestellt sind, so waltet doch unter allen eine wahre Gleichheit in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi. Der Unterschied, den der Herr zwischen den geweihten Amtsträgern und dem übrigen Gottesvolk gesetzt hat, schließt eine Verbundenheit ein, da ja die Hirten und die anderen Gläubigen in enger Beziehung miteinander verbunden sind. Die Hirten der Kirche sollen nach dem Beispiel des Herrn einander und den übrigen Gläubigen dienen, diese aber sollen voll Eifer mit den Hirten und Lehrern eng zusammenarbeiten.“


Die Sendung der Kirche ist allen Christen gemeinsam anvertraut

In diesem Sinne werde in der Kirchkonstitution – so der Kardinal – das „Gemeinsame Priestertum der Gläubigen“ seit der Reformation zum ersten Mal auf katholischer Seite „in hohem Maße aufgewertet“. Lehmann: „Alle Getauften gehören zu diesem gemeinsamen Priestertum, nicht nur die Laien, schon gar nicht die Laien im Unterschied zum Klerus, sondern alle Glieder der Kirche, auch die Priester, Bischöfe und  Ordenschristen.“ So sei die Sendung der Kirche in ihrer Gesamtheit und somit auch allen Christen gemeinsam anvertraut. Niemand sei nur Objekt, alle seien „Subjekte der Kirche“.  Doch die Unterscheidung der Ämter und Charismen werde nicht einfach aufgehoben. „Es besteht eine Einheit der Sendung, aber eine Unterschiedenheit in der Teilhabe an dieser Sendung“, betonte Bischof Lehmann.

Er bezeichnete es als „revolutionär“, dass in dem Konzilsdokument die so genannte Drei-Ämter-Lehre, „die sich zuerst, schon vom Alten Testament her, auf Jesus Christus bezieht und im Lauf einer langen Geschichte auf die ordinierten Ämter bezogen worden ist, aufgebrochen wird, um ein dreifaches Amt der ganzen Kirche, der Hirten und der Gläubigen zu entfalten“. Unter der Drei-Ämter-Lehre wird die gemeinsame Teilhabe aller Getauften am prophetischen, priesterlichen und königlichen Amt Jesu Christ verstanden. „Ich glaube, dass bis heute die Folgen dieser Ausweitung nicht genügend zur Kenntnis genommen worden sind“, so Lehmann.


Verschiedene Weisen der Zugehörigkeit zur Kirche

Auch ging er auf die verschiedenen Weisen der Zugehörigkeit zur Kirche ein, die die Kirchenkonstitution explizit thematisiere. Hier richtete der Kardinal auch den Blick auf die Nichtchristen und zitierte aus dem Konzilsdokument: „Diejenigen endlich, die das Evangelium noch nicht empfangen haben, sind auf das Gottesvolk auf verschiedene Weise hingeordnet.“ Mit Blick auf den Islam heißt es dort: „Der Heilswille umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den Barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird.“ Doch das Konzilsdokument fasse – so der Kardinal – den Blick noch weiter: „Aber auch den anderen, die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, auch solchen ist Gott nicht ferne, da er allen Leben und Atem und alles gibt und als Erlöser will, dass alle Menschen gerettet werden. Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen.“ Schließlich werde eine „äußere Grenze“ mit folgenden Worten beschrieben: „Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen und sich bemühen.“


Wandel in der Missionskonzeption

Abschließend ging Lehmann auf die Missionstätigkeit der Kirche ein. „Wer einmal den Glauben angenommen hat, der ist eigentlich regelrecht getrieben, diese Wahrheit nicht einfach für sich zu behalten, sondern weiterzugeben“, sagte er. Das Konzilsdokument weise darauf hin, „dass jedem Jünger Jesu Christi die Pflicht obliegt, nach seinem Teil den Glauben auszubreiten“. Dabei gehe es nicht um eine „Indoktrinierung von oben herab und um ein von Mitleid geprägtes Herablassen zu den Verlorenen“. Vorausgesetzt werde zudem, dass man auch bei den Nichtchristen und ihren Religionen und Kulturen „Gutes und Wahres“ finden könne, das in einem Erneuerungsprozess „geheilt, erhoben und vollendet“ werden könne. „Damit ist ein beträchtlicher Wandel in der Missionskonzeption der Kirche zur Geltung gebracht“, betonte Lehmann. Dabei gehe es nicht nur um die Erneuerung der Weltmission, „sondern auch um eine ganz neue Ausrichtung der pastoralen Aktivität bei uns selbst“. (do)


Fastenpredigt von Kardinal Karl Lehmann

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