Kirchliche Grundordnung nicht in Frage gestellt

Zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 23. September 2010 nimmt Rechtsanwalt Dr. Burkhard Kämper, Personaldezernent für das nicht-pastorale Personal des Bistums Essen und Lehrbeauftragter für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Stellung.


Dr. Burkhard Kämper zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg

Zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 23. September 2010 sorgen derzeit für ein außerordentlich starkes Echo in der deutschen Medienlandschaft. In beiden Fällen waren die Arbeitsverhältnisse eines kirchlichen Mitarbeiters infolge außerehelicher Beziehungen gekündigt worden und die hiergegen gerichteten staatlichen Arbeitsgerichtsverfahren ohne Erfolg geblieben. Während der EGMR im sog. Mormonenfall keine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sah, ging er im Fall des katholischen Kirchenmusikers im Bistum Essen von einer solchen Verletzung aus.

Rechtsanwalt Dr. Burkhard Kämper, Personaldezernent für das nicht-pastorale Personal des Bistums Essen, verantwortlich für die Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche und Lehrbeauftragter für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, nimmt zu den Unterschieden der beiden Fälle, dem Inhalt der Kirchenmusikerentscheidung und zu ihren Folgen Stellung.


Welcher Sachverhalt liegt eigentlich dem Essener Kirchemusiker-Fall zugrunde?

Kämper: Der Beschwerdeführer war seit 1984 in einer Essener Kirchengemeinde als Kirchenmusiker angestellt. Gut zehn Jahre später trennte er sich von seiner Ehefrau und seinen Kindern und nahm eine außereheliche Beziehung auf, aus der später ein Kind hervorging. Dieses Verhalten ihres Kirchenmusikers nahm die Kirchengemeinde zum Anlass, das Arbeitsverhältnis zu kündigen. Die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage ist in allen arbeitsrechtlichen Instanzen erfolglos geblieben; die Rechtmäßigkeit der Kündigung ist verbindlich bestätigt worden. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht angenommen hatte, hat sich der Beschwerdeführer Anfang 2003 an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt.


Was genau hat nun der EGMR entschieden und worin liegt der Unterschied zum Mormonen-Fall?

Kämper: Im Fall des Mormonen ging  es um einen hochrangigen Mitarbeiter, nämlich um den Gebietsdirektor Öffentlichkeitsarbeit für Europa. In seinem Fall nahmen die Straßburger Richter – offensichtlich auch wegen seiner vergleichsweise hohen Funktion in der Mormonenkirche – keine Verletzung des Privat- und Familienlebens durch die Rechtsprechung an, mit der seine Kündigung bestätigt wurde. Im Gegensatz dazu wurde dem Essener Kirchenmusiker zugestanden, dass genau diese Rechte in seinem Fall verletzt worden sind.


Heißt das nun, dass künftig in der katholischen Kirche das Eingehen außerehelicher Beziehungen folgenlos bleibt und die Kirche künftig von ihren Mitarbeitenden die Einhaltung bestimmter Loyalitätspflichten nicht mehr verlangen kann?

Kämper: Nein, das heißt es nicht! Der EGMR hat hier eine Entscheidung in einem Einzelfall getroffen, die keinesfalls verallgemeinert werden kann. Grundsätzlich hat der EGMR die nationale Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum kirchlichen Arbeitsrecht und speziell zur Zulässigkeit  von besonderen Loyalitätsanforderungen im kirchlichen Dienst bestätigt. Diese Loyalitätsanforderungen sind in der katholischen Kirche seit 1993 in der so genannten Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse konkretisiert worden, die durch die geschlossenen Arbeitsverträge allen Arbeitsverhältnissen, auch den vorher abgeschlossenen, zugrunde liegt.

Ausschließlich mit Wirkung für diesen Einzelfall gelangt der EGMR zu der Einschätzung, dass die Bundesrepublik Deutschland - bei Verfahren vor dem EGMR ist der jeweilige Staat der Gegner des Beschwerdeführers - durch ihre Arbeitsgerichte die Belange des Kirchenmusikers nicht in ausreichendem Maße gegenüber den Belangen der kündigenden Kirchengemeinde abgewogen hat. Dabei wird u. a. darauf abgestellt, dass die Arbeitsgerichte weder das de-facto-Familienleben – für mich eine fragwürdige neue Rechtskonstruktion - noch die eingeschränkten Chancen des Kirchenmusikers am Arbeitsmarkt auf Grund seiner spezifischen Qualifikation berücksichtigt hätten.


Was heißt das jetzt ganz konkret? Kehrt der Kirchenmusiker jetzt an seinen ehemaligen Arbeitsplatz in seiner Kirchengemeinde zurück?

Kämper: Nach Rechtskraft des Urteils – sie tritt nach drei Monaten ein – hat der Beschwerdeführer einen Schadensersatzanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland. Beiden Parteien des Verfahrens ist aufgegeben worden, sich bis zur Rechtskraft  über die Höhe dieses Anspruchs zu verständigen.

Da weder die Kirchengemeinde noch das Bistum Essen diesen Rechtsstreit verloren haben - wie  fälschlicherweise in zahlreichen Medien berichtet wurde -, bleibt es selbstverständlich dabei, dass diese Entscheidung des EGMR nichts an der Wirksamkeit der kirchengemeindlichen Kündigung ändert. Sie ist Anfang des Jahres 2000 rechtsverbindlich vom Landesarbeitsgericht Düsseldorf bestätigt worden. Angesichts dieser Rechtsklarheit ist es auch nicht zu verstehen, dass der Kirchenmusiker selbst in der Öffentlichkeit die Rückkehr an seine ehemalige Orgel propagiert und seine Anwältin nicht einmal eine Woche nach der Entscheidung den Kirchenvorstand der Kirchengemeinde auffordert, den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses anzuerkennen und dem Kirchenmusiker sein rückständiges Gehalt zu überweisen.


Was bedeutet diese Entscheidung jetzt für die Zukunft? Muss die katholische Grundordnung nun geändert werden? Und was bedeutet das Urteil für das künftige Verhalten katholischer Kirchengemeinden in vergleichbaren Fällen?

Kämper: Da die Grundordnung in ihrem Kernbestand vom EGMR nicht beanstandet worden ist, besteht insoweit auch kein Änderungsbedarf. Noch präziser als in der Vergangenheit werden Kirchenvorstände allenfalls in Zukunft vor einer möglichen Kündigung abzuwägen haben, ob die Voraussetzungen der Grundordnung  im Einzelfall erfüllt worden sind. Hierbei wird –  dies lehrt das Urteil – sehr sorgfältig zwischen den einzelnen Berufsgruppen zu differenzieren sein, wobei unbedingt die arbeitsrechtliche Beratung des jeweils zuständigen Generalvikariates eingeholt werden sollte.

Vielen Dank für das Gespräch.

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