Inklusion ist Aufgabe aller Schulformen

Das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung soll in Nordrhein-Westfalen ausgebaut werden. Die politischen Parteien wollen "Inklusion". Doch die Wege zum Ziel, zu einer optimalen Förderung für jedes Kind, sind noch offen und nicht abgesteckt.

Tagung in der Wolfsburg diskutierte gemeinsames Lernen in der Schule

Im Grundsatz herrscht Einigkeit. Die politischen Parteien in Nordrhein-Westfalen wollen „Inklusion“. Doch die Wege zum Ziel sind noch offen und längst noch nicht abgesteckt. Das unterstrichen die beiden schulpolitischen Fraktionssprecher des vor kurzem aufgelösten NRW-Landtages, Professor Dr. Thomas Sternberg (CDU) und Sören Link (SPD), auf einer Tagung zum Thema „Es ist normal verschieden zu sein. Wie kann inklusive Schule gelingen?“ in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim.

Inklusion bedeutet kurzgefasst, dass Menschen mit Behinderung ohne Einschränkung das gleiche Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe gewährt wird wie Menschen ohne Behinderung. Inklusion bedeutet damit auch Wahlfreiheit. Die 2009 für die Bundesrepublik in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN BRK) verpflichtet den Staat als Garanten des Rechts, Inklusion zu ermöglichen. Das beinhaltet auch die Verpflichtung, ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln, also das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen zum Regelfall zu machen, und zwar in den allgemeinen Schulen. Der Unterricht in Förderschulen soll auf Wunsch der Eltern aber weiterhin möglich bleiben. Die letzte NRW-Landesregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung auszubauen.

Der Handlungsbedarf ist groß. Das verdeutlichte Tagungsleiterin Dr. Judith Wolf, Dozentin an der „Wolfsburg“, schon zu Beginn der gemeinsam mit dem Dezernat Schule und Hochschule des Bistums Essen durchgeführten Veranstaltung. „Der gemeinsame Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ist in Deutschland noch die Ausnahme“, betonte Wolf. Auch wenn es im Ländervergleich Unterschiede gebe, sei vor allem der gemeinsame Unterricht in weiterführenden Schulen noch die Ausnahme. Laut einer Bertelsmann-Studie gingen im Bundesdurchschnitt nur knapp 15 Prozent der Schüler mit Förderbedarf – ohne den Schwerpunkt geistige Entwicklung – in der Sekundarstufe I in eine Regelschule. In NRW seien es nur acht Prozent. „Die inklusive Bildung endet meist in der Kita“, so Wolf. Die Lernerfolge im getrennten Unterricht seien offenbar unzureichend. Über 76 Prozent der Förderschüler würden keinen Hauptschulabschluss erreichen. Viele Studien würden belegen, dass vom gemeinsamen Unterricht nicht nur die schwächeren Schüler profitierten. Bei stärkeren Schülern würde vor allem die Sozialkompetenz gestärkt.


Defizitorientierte Sicht von Behinderung

Wolf wies darauf hin, dass Behinderung aus dem „schwierigen Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne leibliche und geistige Vorschädigungen“ resultiere. Die defizitorientierte Sicht von Behinderung habe erhebliche Konsequenzen. „Sie nimmt Behinderung lediglich als Problem des einzelnen Behinderten wahr, das allein auf seiner Seite durch medizinisch-therapeutische oder auch heilpädagogische Maßnahmen abgebaut werden kann“, so die Kritik der Dozentin. Eine solche Sichtweise in den Köpfen vieler Menschen „schränkt ein, werten ab, grenzen aus“. Deshalb ist es nach Ansicht von Wolf wichtig, das herkömmliche Normalitätsverständnis zu überwinden und die Einsicht zu gewinnen, „dass es normal ist, verschieden zu sein“, so Wolf. Sie erinnerte an ein Wort der Deutschen Bischöfe aus dem Jahre 2003. Dort heißt es: „Mit Behinderungen zu leben, hat eine eigene Sinnhaftigkeit. …Menschen mit Behinderungen sind ‚besondere Autoritäten‘ für einen Reichtum sinnerfüllten, gelingenden Lebens, der sich in keinem festgefügten Bild fixieren lässt.“ Die Gesellschaft von einem neuen Normalitätsverständnis her zu denken – darauf wies Wolf hin - , decke sich mit der Grundlage der christlichen Ethik: „Die Hinwendung zu Schwächeren und Benachteiligten und die besondere Aufgabe, auch ihnen Beteiligung zu garantieren und die Strukturen der Gesellschaft aus dieser Perspektive zu gestalten.“


Klare Signale von der Politik notwendig

Dass gemeinsames Lernen Behinderter und Nichtbehinderter Sinn mache, unterstrich Lucia Schneider, Vorsitzende des Vereins „Schule für alle“ und selber Lehrerin in ihrem Statement. Die Mutter eines behinderten Kindes weiß, wovon sie spricht. „Wir leben schon in unserer Familie gemeinsames Lernen“, so Schneider. Das Thema „Inklusion“ sei nicht neu. Es gehe jetzt aber nicht mehr um das „Ob“, sondern um das „Wie“. Inklusion könne dann gelingen, „wenn der Grundsatz für alle Beteiligten verständlich ist“, betonte Schneider. Sie wünscht sich „klare Signale“ von der Politik sowie „klare Vorgaben im Sinne der Kinder“. Schneider: „Ich möchte, dass mein Kind Zugang zu allgemeinbildenden Schulen und Teilhabe hat.“ Bei allen Schritten müssten Eltern darauf vertrauen können, dass es ihrem Kind gut gehe. Inklusion setze aber Akzeptanz voraus.

Auf den Mangel an Sonderpädagogen wies Angelika Frücht, Regierungsschuldirektorin bei der Bezirksregierung Düsseldorf, hin. Der „Numerus clausus“ von 1,2 stelle hinsichtlich des Studiums eine Hürde dar. Die Bezirksregierung habe zuletzt 201 Stellen ausgeschrieben, aber nur 100 konnten besetzt werden. Bedingungen für das Gelingen von Inklusion sind für Frücht eine „inklusive Schulidentität“,  eine neue Rollenfindung der Lehrkräfte hinsichtlich der Aufgaben und Kompetenzen sowie die „Unterrichtsentwicklung“. „Außerdem müssen die notwendigen räumlichen Voraussetzungen geschaffen  und in Fachlichkeit investiert werden“, so Frücht.


Umfassende Aus- und Fortbildung der Lehrer

„Jedes Kind muss die beste Förderung bekommen“, stellte Professor Dr. Thomas Sternberg klar. Man dürfe den qualitativen Standard der Förderschulen nicht unterschreiten. Inklusion sei „kein Sparprogramm“ und brauche einen großen Zeitrahmen. Sternberg verwies auch auf die unterschiedlichen Interessen von Eltern und deren Wahlrecht. Beides könne zeitweise auch zu Doppelstrukturen führten. Der Ausbau der sonderpädagogischen Kompetenz durch eine entsprechend ausgerichtete Lehrerausbildung und eine intensive Fortbildung ist für Sternberg ebenfalls unerlässlich. „Auch brauchen wir eine Veränderung der Einstellung gegenüber Behinderten in unserer Gesellschaft“, betonte Sternberg. Schon allein deshalb könne man Inklusion „nicht mit der Brechstange“ umsetzen.

Dem stimmte auch Sören Link zu. Der SPD-Politiker plädiert für einen schrittweisen Einstieg in ein inklusives Schulsystem, um Schüler, Eltern, Lehrer und Träger „behutsam“ mit auf den Weg zu nehmen. „Wir dürfen die Lehrer und Schulen nicht alleine lassen und ihnen einfach etwas überstülpen“, warnte Link. Die Bereitstellung eines entsprechend qualifizierten Personals sei eine große Herausforderung. Inklusives Lernen verlange eine vorherige Ausbildung und Fortbildung von Lehrern. Hier müsse viel Geld und Manpower investiert werden.

In der abschließenden Diskussion wurde deutlich, dass es hinsichtlich der Inklusion nicht „die eine Lösung“ geben könne, sondern viele Wege möglich seien. Beklagt wurde, dass beim Thema Inklusion“ Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen kaum Beachtung fänden. „Wir dürfen Lernbehinderungen“ nicht bagatellisieren“, warnte eine Pädagogin. Es gebe einen großen „emotional-sozialen Förderbedarf“. Auch solle man den Übergang von der Schule in den Beruf im Blick behalten, auch im Ganztag inklusiv arbeiten und Gymnasien nicht nur für „zielgleiche Kinder“ öffnen. „Inklusion ist eine Aufgabe aller Schulformen“, unterstrich Sören Link. (do)

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