„Er war ein Mann des Lebens“ - Ein Gespräch mit Bernhard Groß

Ein Gespräch mit Bernhard Groß, Sohn des Seligen Nikolaus Groß, über seinen Vater und seine Mutter Elisabeth, die ihren Mann im Widerstand gegen die Nazis unterstützte und nach dessen Tod das Überleben der Familie sicherte.

Bernhard Groß über seinen Vater, den Seligen Nikolaus Groß, und seine Mutter Elisabeth, die ihren Mann im Widerstand gegen die Nazis unterstützte und nach dessen Tod das Überleben der Familie sicherte


Wie haben Sie Ihren Vater erlebt?
Ich war zehn Jahre alt, als mein Vater starb. Ich habe ihn bewusst erlebt, aber eben als Kind. Die äußere Bedrohung durch den Krieg und die innere durch die Nazis hat das Verhältnis in unserer Familie geprägt. Wir Kinder wussten, dass wir anders lebten als unsere Schulkameraden, die in der Hitler-Jugend aktiv waren. Unsere Eltern haben uns das aber nicht erlaubt. Erst später habe ich verstanden, dass wir im Widerstand lebten und unsere Eltern uns schützen wollten. An meinen Vater erinnere ich mich als einen sehr ernsthaften Mann. Er war nie lauthals fröhlich. Das war sicher auch seine Natur, aber die Zeiten damals waren auch zu ernst. Auf der anderen Seite war er ein Vater, der sich immer Zeit nahm für seine Kinder. Der Vorteil war, dass unser Kölner Wohnhaus direkt neben dem Ketteler-Haus lag, in dem er arbeitete, weil er aufgrund einer Magenkrankheit nicht Soldat sein konnte. So durften wir ihn jeden Tag erleben. Seine Art, uns zu lenken und uns von falschen Wegen abzuhalten, war einzigartig. Das Vertrauen seiner Kinder war ihm immer sicher. Selbst als die Größeren in der Schule vom Lehrer bestraft wurden, weil wir am Sonntag in der Kirche statt beim HJ-Treffen waren.


Welche Rolle spielte Ihre Mutter damals?
Sie war eine Frau, die unglaublich kämpfen konnte. Das hätte man ihr vorher nicht zugetraut. Sie hat aus der zweiten Reihe heraus agiert. Zweimal ist sie nach Berlin gefahren, hat ihren Mann intensiv begleitet, ihm Kraft gegeben. Nach seinem Tod musste sie unsere Erziehung alleine meistern. Wir waren ja ganz normale Kinder mit ganz normalen Bedürfnissen. Zum einen wollte sie den Anforderungen meines Vaters gerecht werden, uns in seinem Sinne weiter erziehen. Zum anderen sorgte sie sich ständig um unser leibliches Wohl. Wir hatten keine Sterbeurkunde von meinem Vater, also erhielt sie keine Rente. Ihr Lebensmotto war: „Gott hat immer wunderbar geholfen. Das haben wir dem Vater zu verdanken.“ Sie war sich sicher, dass unser Vater sich auch nach seinem Tod für uns einsetzte. Ohne diese Frau wäre Nikolaus Groß nicht gewesen, was er war, und andersherum wäre sie nichts ohne ihn gewesen. Mein Vater wurde oft kritisiert, weil er sich nicht zurückgenommen hat, um für uns Kinder zu überleben. Aber meine Mutter hat immer zu ihm gehalten. Sie war der Meinung, dass er, hätte er sich zurückgenommen, innerlich gestorben wäre. Für uns hatte das eine große Vorbildfunktion.


Welche Werte haben Ihre Eltern Ihnen mitgegeben?
Wir wurden sehr streng und gottesfürchtig erzogen. Dieses Gottvertrauen hat sich tief bei uns eingeprägt. Wir haben gelernt, dass wir uns nicht verbiegen dürfen, dass wir Gott mehr gehorchen müssen als den Menschen. Positiver Widerstand sozusagen. Wir haben gelernt, was Freiheit, was Menschenwürde ist und dass man sich dort, wo diese verletzt wird, einsetzen muss. Es gibt nichts Schlimmeres als Mitläufer, die sich hinter
Äußerungen wie „Was hätte ich schon tun können“ verstecken. Auch der Wert der Familie – die Einheit von Mutter, Vater, Kind – hat uns sehr geprägt. Und eng damit zusammen hängt für mich auch die Kraft des Gebets. Jeden Morgen haben wir gemeinsam gebetet, zu den Mahlzeiten und abends erneut. Als mein ältester Bruder in Russland vermisst wurde, ertrug meine Mutter nicht, dass er sonntags nicht in die Kirche gehen konnte. Also musste immer einer von uns ein zweites Mal am Sonntag zur Kirche, um stellvertretend für ihn zu beten. Das haben wir bis 1948 beibehalten, da kehrte mein Bruder zurück. Das ist geschwisterliche Solidarität im besten Sinne.


Was können junge Menschen von heute aus dem Wirken Ihrer Eltern lernen?
Die freiheitliche, demokratische Grundhaltung. Dass die Menschenwürde und die Freiheit des Einzelnen erhalten bleiben müssen. Auch dass die Familie einen hohen Stellenwert hat – ohne dabei andere Lebensformen abzuwerten. Aber nur in der Familie lebt die Gesellschaft weiter. Wichtig ist auch, Unrecht zu benennen, egal ob vor der eigenen Haustür oder in der Welt. Man darf sich davor nicht zurückziehen. Das gilt auch für die Kirche. Man sollte kritisch hinterfragen, welche Äußerungen die Vertreter der Kirche tätigen. Man sollte andere Meinungen anhören und anerkennen.


Wie haben Sie den Prozess der Seligsprechung erlebt?
Die Verehrung meines Vaters war immer Teil der Geschichte, zu der wir Kinder ja sehr eng gehörten. Schon 1945 gab es Pfarrer, die meinen Vater selig sprechen wollten. Dann gab es Gemeinden, Schulen und Straßen, die nach ihm benannt wurden. Wir als Kinder waren immer dabei. Mein Vater ist ein Seliger unserer Zeit und niemand, den man auf einen Sockel stellen sollte. Dann wäre er nicht erreichbar. Er war ein Mann des Lebens, einer von uns. Das macht ihn greifbar. Das können auch andere schaffen. Er hat Gewissen gezeigt, wo Gewissen gefragt war. Und diesen Weg ist er bis zum Ende gegangen – bis zum Galgen. Als mein Vater dann von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen wurde, durfte ich als geweihter Diakon dabei sein. Dieser Moment ist für mich unübertroffen.


Welchen Stellenwert räumen Sie dem Oratorium von Stefan Heucke in der Verehrung um Ihren Vater ein?
Es gehört unbedingt dazu. Ich durfte das Werden dieses Werkes ja sehr nah mitbekommen. Und ich danke dem ehemaligen Initiativkreis, der das Ganze ins Rollen gebracht hat. Diese Dimension hätte ich mir nie vorgestellt – und mit einer so exzellenten Besetzung. Das Schöne daran ist, dass der Komponist Stefan Heucke und sein Bruder Clemens, der das Libretto geschrieben hat, protestantisch sind. Es gibt wohl kein besseres Beispiel für die Ökumene. Das freut mich sehr. Denn mein Vater hat den ökumenischen Gedanken ebenfalls sehr gepflegt. Während seiner Gefangenschaft betete er regelmäßig mit drei weiteren Gefangenen: Zwei waren protestantisch, einer katholisch. Jetzt freue ich mich sehr darauf, gemeinsam mit vier meiner Geschwister die Aufführung des Oratoriums erleben zu dürfen. Ich denke, dass sich durch so eine Veranstaltung die Bekanntheit meiner Eltern weiter verbreitet und dass so die Inhalte und Werte ihrer Geschichte weitergetragen werden, um die es sich lohnt zu leben bzw. sein Leben dafür einzusetzen.


Vita
Bernhard Groß wurde 1934 als sechstes von sieben Kindern des Ehepaars Nikolaus und Elisabeth Groß in Köln geboren. Als sein Vater, der Journalist und Widerstandskämpfer Nikolaus Groß, während des Zeiten Weltkriegs von den Nazis gefangengenommen und hingerichtet wurde, war er zehn Jahre alt. Gemeinsam mit seinen Geschwistern widmete er sich nach dem Krieg der Aufarbeitung der Widerstandshandlungen seiner Eltern. Noch heute hält der ehemalige Leiter der Sozialabteilung im Bergwerk Walsum Vorträge, führt Zeitzeugengespräche und pflegt das Archiv seiner Eltern. Der Vater von sieben Kindern und Großvater von 17 Enkelkindern studierte nach seiner Pensionierung Theologie und wurde 1999 in Münster zum Diakon geweiht. In dieser Tätigkeit ist er heute in der Dinslakener Gemeinde Sankt Vincentius tätig. (Quelle: JournalistenBüro Herne GmbH)

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