„Das kantige Profil des Grundgesetzes“

Um die Frage "Mehr direkte Demokratie wagen?" ging es auf dem 30. Juristentag im Bistum Essen. In der Katholischen Akademie "Die Wolfsburg" in Mülheim erläuterte der Staatsrechtler und Staatsphilosoph Professor Dr. Josef Isensee seine kritische Haltung zu einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber Volks- und Bürgerentscheiden.


Juristenrat diskutierte Verzicht auf Plebiszite in der Verfassung

„Mehr direkte Demokratie wagen?“ – Diese Frage stand im  Mittelpunkt des 30. Juristentages in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim. Dass der Verfassungsgrundsatz, dass alle Gewalt vom Volk ausgehe (Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz), zwar die Volkssouveränität garantiere, politische Sachentscheidungen aber nicht durch das Volk selbst, sondern durch die gewählten Volksvertreter getroffen werden, unterstrich der emeritierte Staatsrechtler und Staatsphilosoph Professor Dr. Josef Isensee. Einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber Volks- und Bürgerentscheiden (Plebiszit) steht er kritisch gegenüber. Die Diskussion um mehr direkte Demokratie sei enorm emotional und mit vielen „Totschlag-Argumenten“ befrachtet. Die Befürworter sähen im Plebiszit ein Mittel gegen Machtmissbrauch und Politikverdrossenheit. Die Skeptiker seien längst in der Defensive, obwohl sie das Grundgesetz auf ihrer Seite hätten.


Nicht Ausdruck einer „ Angst vor dem Volk“

Denn in nur zwei Fällen sehe die Verfassung einen obligatorischen Volksentscheid vor, bei der Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29 Abs. 2 GG) und bei einer umfassenden Revision des Grundgesetzes oder der Ausarbeitung einer neuen Verfassung (Art. 146 GG). Doch den Eindruck, dass das Volk in der Bundesrepublik nichts zu sagen habe, teilt er nicht. „Das Plebiszit ist in allen Bundesländern gesetzlich verankert“, so Isensee. Auch das Kommunalrecht sehe plebiszitäre Möglichkeiten vor. Doch Demokratie sei für das Grundgesetz „repräsentative Demokratie“. „Es verwirklicht einen Parlamentarismus strenger Observanz und verschließt sich aus Prinzip plebiszitären Verfahren“, betonte der Professor. Nicht etwa eine „Angst vor dem Volk“ sei Grund für die antiplebiszitäre Haltung der „Väter des Grundgesetzes“ gewesen. sondern eine Vorsicht, die Lehren aus der Weimarer Republik (Unterwerfung der Volksherrschaft unter das Gesetz, Bindung der Staatsgewalt an die Verfassung, Klarheit der Machtverteilung) ziehen wollte. Dieses „kantige Profil des Grundgesetzes“ sei darüber hinaus auf die „katastrophengespeiste Einsicht der Verführbarkeit des Volkes“ zurückzuführen.


„Erfolgsgeheimnis“ des Grundgesetzes

Isensee hält den Verzicht auf Plebiszite für ein „Erfolgsgeheimnis“ des Grundgesetzes. Viele richtungsweisende Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik seien gegen die demoskopische Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt worden, von Adenauers Westpolitik über Brandts Ostpolitik, dem Nato-Doppelbeschluss, dem Vertrag über die Europäische Union (Maastricht) bis zur Agenda 2010. „Die Geschichte unseres Landes wäre sonst anders verlaufen“, so Isensee.

In der repräsentativen Demokratie hätten Regierung und Parlament dem Volk Rede und Antwort zu stehen, immer unter dem Risiko der Wahlniederlage. Sie trügen die politische Verantwortung und ihre Entscheidungen seien an das Amt und das Gemeinwohl gebunden. „Es gibt einen strikten Vorbehalt der Verfassung“, betonte Isensee. Bundestag und Regierung dürften sich nicht eines Problems entledigen, „indem sie es auslagern und zur Volksabstimmung geben“. Der Stimmbürger hingegen verantworte nichts, müsse sich niemandem erklären. „Das Plebiszit könnte ein neues Wirkungsfeld für die Opposition werden, das Regierungshandeln zu behindern“, warnte der Professor. Eine weitere Gefahr sieht er darin, dass die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft im Volksentscheid aufgehoben würde. Denn jeder Bürger könnte für sich im Geheimen ein Kreuz machen und in der Öffentlichkeit von seiner Entscheidung abrücken oder sie sogar dementieren. „Die parlamentarische Demokratie kann nur solche plebiszitären Modifikationen vertragen, die den Parlamentarismus nicht in Frage stellen“, betonte Isensee.


Nicht die parlamentarische Demokratie aushöhlen


Dass es in der repräsentativen Demokratie darum gehe, eine Balance zwischen widerstreitenden Interessen zu finden, dabei das Gemeinwohl und nicht Partikularinteressen im Blick zu haben, betonte Elmar Brok, Mitglied des Europäischen Parlaments und dort Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. „Wir haben ein hochlöbliches Engagement von Bürgern für Einzelinteressen, aber die Fähigkeit, bei gegensätzlichen Positionen Kompromisse zu finden, ist nicht befriedigend“, sagte Brok. Kompromisse seien kein Wählerbetrug. Er wünsche sich mehr Menschen, die sich für das Gesamtwohl engagierten. Der Politiker warnte davor, mit Referenden die parlamentarische Demokratie auszuhöhlen. Diese seien teilweise nichts anderes als eine Entscheidungsverweigerung der politisch Verantwortlichen. In Irland sei das Referendum „zum Erpressungsinstrument von Partikularinteressen“ geworden, in Rumänien werde es dazu benutzt, um die Verfassung außer Kraft zu setzen.


Europa muss näher zum Bürger kommen

Brok beklagte, dass der EU-Bürger nicht wisse, wer für was verantwortlich sei. Hier brauche es mehr Transparenz. „Es gibt fast nichts mehr, was ohne direkte Mitwirkung der gewählten Volksvertreter im EU-Parlament entschieden wird“, betonte der Politiker. So werde zukünftig der Präsident der Europäischen Kommission vom Europäischen Parlament gewählt. „In Zukunft bist es wichtig, dass Europa näher zum Bürger kommt, offener ist“, so Brok. Bislang sei es nicht ausreichend gelungen, die politische Entscheidungen und deren Umsetzung ins Bewusstsein der Bevölkerung zu bringen.

In der anschließenden Diskussion wurde auch die Frage nach der direkten Mitbestimmung der Bürger bei finanzpolitischen Entscheidungen gestellt. Dass hier das Plebiszit ausgeschlossen bleiben müsse, befürwortete Professor Isensee. Zu groß sei die Gefahr, dass Sozialneid geschürt und Partikularinteressen durchgesetzt würden. Zudem sprenge ein einfaches plebiszitäres „Ja“ oder „Nein“ das „sorgsam austarierte Haushaltsverfahren zwischen alleiniger Budgetinitiative der Exekutive und alleiniger Budgethoheit des Parlaments“.

Thema war auch der anstehende SPD-Mitgliederentscheid. Hier machte Isensee klar, dass Parteien in ihrer Willensbildung frei seien, somit das Verfahren zulässig sei. „Doch darf die Entscheidung auch die Abgeordneten beeinflussen?“, fragte der Professor. Es gebe keinen Rechtszwang, kein Abgeordneter sei an die Entscheidung der Mitglieder gebunden. Ansonsten würde die Unabhängigkeit des Abgeordneten und der Fraktion angetastet. (do)

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